Gilbert, Elizabeth
bleiben lassen und Gott den Abschiedskuss geben. Meine Frage an Gott
in jener Nacht auf dem Dach des Ashrams lautete also: Gab es in Anbetracht der
Tatsache, dass ich wahrscheinlich nie wieder mit meinem Exmann von Angesicht
zu Angesicht reden würde, vielleicht noch eine andere Ebene, auf der wir
miteinander kommunizieren konnten? Auf der mein Mann mir verzeihen konnte?
Ich lag da oben, ganz allein. Ich tauchte ein in die
Meditation und wartete, dass man mir sagte, was ich tun solle. Mir wurde klar,
dass ich das Ganze zu wörtlich genommen hatte. Du willst mit dem Mann reden?
Dann red doch mit ihm. Jetzt gleich, auf der Stelle. Du hast darauf gewartet,
dass man dir verzeiht? Dann verzeih halt du. Hier und jetzt, auf der Stelle.
Ich dachte daran, wie viele Menschen, ohne Vergebung zu erlangen und ohne
selbst zu verzeihen, ins Grab sinken. Dachte daran, wie viele Menschen
Geschwister, Freunde, Kinder oder Geliebte verlieren, ehe sie ihnen gegenüber
die kostbaren Worte der Güte und Vergebung aussprechen konnten. Wie ertragen
die Überlebenden gescheiterter Beziehungen den Schmerz, der aus diesen
unerledigten und ungesagten Dingen resultiert? An diesem Ort der Meditation
fand ich die Antwort darauf: Man kann die Sache selbst beenden, von sich aus.
Und das ist nicht nur möglich, sondern sogar lebenswichtig.
Und dann tat ich zu meiner Überraschung, immer noch
meditierend, etwas Seltsames. Ich lud meinen Exmann ein, sich zu mir zu
gesellen - auf diese Dachterrasse. Fragte ihn, ob er nicht so freundlich sein
könnte, mich hier zu treffen. Und wartete dann, bis ich ihn spürte. Er kam
tatsächlich. Plötzlich war seine Gegenwart geradezu greifbar. Ich konnte ihn
praktisch riechen.
»Hi, Schatz«, sagte ich.
Und im nächsten Moment heulte ich fast, begriff jedoch
schnell, dass das überhaupt nicht nötig war. Tränen sind ein Teil unserer
körperlichen Existenz, doch der Ort, an dem sich unsere beiden Seelen in dieser
Nacht trafen, hatte rein gar nichts mit unseren Körpern zu tun. Die beiden, die
da oben auf dem Dach miteinander reden mussten, waren nicht einmal mehr
Menschen. Redeten nicht einmal miteinander. Waren nicht einmal Ex-Eheleute,
waren weder sturer Bock aus dem mittleren Westen noch überkandideltes Yankeeweib,
weder Mittvierziger noch Mittdreißigerin, waren keine beschränkten
Zeitgenossen, die sich seit Jahren um Sex, Geld und Möbel stritten - nichts von
alledem spielte hier eine Rolle. Zum Zwecke dieses Treffens, auf der Ebene dieser
Zusammenkunft, waren sie lediglich zwei kühle blaue Seelen, die bereits alles
begriffen hatten. Unbeeinträchtigt durch ihre Körper und die komplexe
Geschichte ihrer vergangenen Beziehung begegneten sie sich jenseits dieses Daches
(sogar jenseits von mir) in unendlicher Weisheit. Immer noch meditierend
verfolgte ich, wie diese zwei kühlen blauen Seelen sich umkreisten,
verschmolzen, sich wieder trennten und ihre Vollkommenheit und Ähnlichkeit
betrachteten. Alles wussten sie. Wussten es schon vor langer Zeit und werden
es immer wissen. Sie müssen einander nicht verzeihen; sie haben es schon bei
ihrer Geburt getan.
Folgende Lektion aber lehrten sie mich: »Halt dich da
raus, Liz. Für dich ist diese Beziehung zu Ende. Lass uns das übernehmen.
Kümmer du dich jetzt wieder um dich.«
Nach einer langen Zeit öffnete ich die Augen und wusste,
dass es vorbei war. Nicht nur meine Ehe und Scheidung, sondern auch die ganze
damit verbundene dumpfe Traurigkeit war vorbei. Ich war frei. Nicht, dass wir
uns falsch verstehen - selbstverständlich würde ich hin und wieder an meinen
Exmann denken und auch die üblichen Gefühle verspüren. Nur hatte ich durch
dieses kleine Ritual auf dem Dach endlich einen Ort für diese Gedanken und
Gefühle, wann immer sie künftig wieder auftauchen würden. Ich konnte sie
hierher schicken, zurück zu dieser Erinnerung, zurück in die Obhut der beiden
kühlen blauen Seelen, die schon alles verstanden haben und immer verstehen
werden.
Denn dazu sind Rituale da. Wir Menschen praktizieren
spirituelle Zeremonien, um einen sicheren Ort für unsere Glücksgefühle und
Traumata zu haben, damit wir sie nicht ständig mit uns herumschleppen müssen.
Wir alle brauchen solche Orte ritueller Regeneration. Und wenn unsere Kultur
oder Tradition das spezifische Ritual, das wir brauchen, nicht kennt, steht es
uns - meine ich - wahrhaftig zu, uns selbst etwas Entsprechendes auszudenken,
um unseren gestörten Gefühlshaushalt in Ordnung zu bringen. Vollzieht
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