Gilbert, Elizabeth
Upanischaden an, dass das so
genannte Chaos tatsächlich eine göttliche Funktion haben könnte, auch wenn man
diese vielleicht nicht auf Anhieb erkennt, und so heißt es: »Die Götter lieben
das Geheimnisvolle und verabscheuen das Offensichtliche.« Der Versuch,
wenigstens innerlich das Gleichgewicht zu halten, ist folglich die beste
Reaktion auf unsere unverständliche und gefährliche Welt - egal welcher
Wahnsinn um uns herum tobt.
Sean, der irische Farmer, hat es mir so erklärt: »Stell
dir vor, das Universum wäre ein großes rotierendes Rad. Wahrscheinlich würdest
du dich eher in der Mitte aufhalten wollen und nicht am Rand, wo es einen wild
herumwirbelt und man buchstäblich durchdreht. Das ruhige Zentrum aber, das ist
dein Herz. Gottes Wohnstätte in deinem Innern. Also hör auf, in der Welt nach
Antworten zu suchen. Kehr einfach in diese Mitte zurück, dort wirst du
dauerhaften Frieden finden.«
Nichts hat mir - spirituell gesprochen - jemals mehr eingeleuchtet
als diese Vorstellung. Für mich funktioniert sie.
Ich habe eine Menge Freunde in New York, die nicht religiös
sind. Entweder haben sie sich von den spirituellen Lehren ihrer Jugend
abgewandt, oder aber sie sind ohne Gott aufgewachsen. Natürlich sind einige von
ihnen angesichts meiner neuesten Bemühungen, Heiligkeit zu erlangen, einigermaßen
von den Socken. Selbstverständlich werden Witze darüber gerissen. Mein Freund Bobby
etwa stichelte einmal beim Versuch, meinen Computer zu reparieren: »Nichts gegen
deine Aura, aber vom Runterladen von Software verstehst du immer noch rein gar
nichts.« Ich weiche den Witzen aus wie ein Boxer den Schlägen des Gegners. Ich
finde das alles ja auch lustig.
Bei einigen meiner Freunde stelle ich jedoch fest, dass
sie - offenbar mit zunehmendem Alter - die Sehnsucht verspüren, an irgendetwas
zu glauben. Allerdings reibt sich diese Sehnsucht an allen möglichen
Hindernissen, unter anderem ihrem Intellekt beziehungsweise ihrem gesunden
Menschenverstand. Wir erfahren in unserem Leben mitunter extremes Glück und
unermessliches Leid, und gerade diese einschneidenden Erfahrungen bewirken,
dass wir uns nach einem spirituellen Kontext sehnen, in dem wir unsere Klagen
und unsere Dankbarkeit ausdrücken oder verstehen können. Das Problem dabei
ist: Was soll man verehren, zu wem beten?
Ich habe einen lieben Freund, dessen erstes Kind direkt
nach dem Tod der Mutter des Freundes geboren wurde. Nach diesem Zusammenfall
von Wunder und Verlust verspürte mein Freund den Wunsch nach irgendeinem
heiligen Ort, den er besuchen, oder einem Ritual, das er vollziehen konnte, um
diese Gefühle zu klären. Von Haus aus war mein Freund Katholik, als Erwachsener
aber war eine Rückkehr zur Kirche undenkbar für ihn geworden. (»Nach allem, was
ich weiß«, sagte er, »kann ich's ihnen einfach nicht mehr abkaufen.«) Da er
aus Boston kommt, wäre es ihm natürlich höchst peinlich, Hindu oder Buddhist
oder sonst etwas »Durchgeknalltes« zu werden. Was aber sollte er tun?
»Schließlich will man sich eine Religion nicht wie eine Rosine aus dem Kuchen
picken ...«
Eine Einstellung, die ich absolut respektiere - nur dass
ich völlig anderer Meinung bin. Denn wenn es um unsere Seele und unseren
Frieden in Gott geht, haben wir, finde ich, das Recht, wählerisch zu sein. Und
wann immer wir Trost oder Entrückung brauchen, sind wir meiner Ansicht nach
frei, nach jeder nur denkbaren Metapher zu suchen, die uns über die weltliche
Schwelle hinweghebt. Das ist nichts, dessen man sich schämen müsste, sondern die
Suche nach Heiligkeit, die die Geschichte der Menschheit begleitet. Hätte sich
die Humanitas in ihrer Erforschung des Göttlichen niemals weiterentwickelt,
würden viele von uns wohl noch heute - wie die alten Ägypter - goldene
Katzenstatuen anbeten. Und diese Evolution des religiösen Denkens war und ist
mit Rosinenpickerei verknüpft. Man nimmt alles, was funktioniert, wo immer man
es findet, und strebt weiter in Richtung Licht.
Jede Religion der Welt, so glaubten die Hopi-Indianer,
enthält einen spirituellen Faden, all diese Fäden aber suchen einander, um sich
miteinander zu verbinden. Und wenn dann alle Fäden miteinander verdrillt sind,
bilden sie ein Tau, das uns aus dieser finsteren Ära ins nächste Zeitalter
zieht. Auf zeitgenössischere Weise hat der Dalai-Lama dieselbe Idee
aufgegriffen und seinen westlichen Anhängern immer wieder versichert, dass sie
keine tibetischen Buddhisten werden müssten, um seine
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