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Gilbert, Elizabeth

Gilbert, Elizabeth

Titel: Gilbert, Elizabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Love Pray Eat
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Schüler zu sein. Er lädt
sie ein, sich jede beliebige Idee aus dem tibetischen Buddhismus herauszupicken
und in das eigene Glaubensgebäude zu integrieren. Auch in der Lehre der
katholischen Kirche findet man den Gedanken, dass Gott größer sein könnte, als
unsere religiösen Doktrinen es uns gelehrt haben. Im Jahr 1953 schickte
ausgerechnet Papst Pius XII. Gesandte mit folgenden schriftlichen Anweisungen
auf eine Libyenreise: »Glaubt nicht, dass ihr euch unter die Ungläubigen
begebt. Auch die Muslime erlangen Erlösung. Denn die Wege der Vorsehung sind
unendlich.«
    Aber ist nicht ohnehin klar, dass das Unendliche tatsächlich
... unendlich ist? Dass sogar der Heiligste unter uns immer nur Fragmente
erkennen kann? Und dass sich, wenn wir diese Bruchstücke sammeln und
vergleichen könnten, vielleicht allmählich eine Geschichte Gottes offenbaren
würde, die jedem ähnelt und alle einschlösse? Und ist unsere persönliche
Sehnsucht nach Transzendenz nicht nur ein Teil dieser größeren menschlichen
Suche nach dem Göttlichen? Hat nicht jeder von uns das Recht, weiterzuforschen,
bis er der Quelle des Wunders so nah wie nur möglich kommt? Auch wenn das
hieße, für eine Weile nach Indien zu gehen und Bäume im Mondschein zu küssen?
     
    71
     
    Meine Maschine geht morgen früh um vier Uhr. In dieser
Nacht, beschließe ich, werde ich gar nicht erst schlafen gehen, sondern den
ganzen Abend in einer der Meditationshöhlen verbringen und beten. Ich bin zwar
eigentlich keine Nachteule, aber ich will diese letzten Stunden im Ashram wach
erleben. Es gibt viele Dinge in meinem Leben, derentwegen ich mir Nächte um die
Ohren geschlagen habe - um Liebe zu machen, um zu streiten, um lange Strecken
zurückzulegen, zu tanzen, zu weinen, zu grübeln (und manchmal sogar alles zusammen
im Laufe einer einzigen Nacht) -, nie aber habe ich ausschließlich um des
Gebets willen meinen Nachtschlaf geopfert. Warum also nicht heute zum ersten
Mal?
    Ich packe meinen Koffer und stelle ihn an der Tempelpforte
ab, damit ich ihn, wenn das Taxi vor Tagesanbruch eintrifft, sofort
griffbereit habe. Dann wandere ich den Hügel hinauf, betrete die
Meditationshöhle und nehme meine Sitzhaltung ein. Obwohl ich allein bin, habe
ich mich auf einen Platz gesetzt, von dem aus ich das große Foto Swamijis, des Gurus
meiner Meisterin, des Ashram-Gründers, des längst dahingegangenen Löwen, sehen
kann, der irgendwie noch immer an diesem Ort weilt. Ich schließe die Augen und
lasse das Mantra kommen. Ich steige die Leiter hinab in mein eigenes
Ruhezentrum. Dort angekommen, spüre ich, wie die Welt buchstäblich innehält -
wie ich es mir immer gewünscht habe, als ich neun Jahre alt war und die
Unbarmherzigkeit der Zeit mich mit panischer Angst erfüllte. Die Uhr in meinem
Herzen bleibt stehen, die Kalenderblätter flattern nicht mehr zu Boden. Still
und verwundert betrachte ich, was ich begreife. Ich bete nicht - ich bin Gebet
geworden.
    Die ganze Nacht kann ich hier sitzen.
    Und tue es auch.
    Ich weiß nicht, was mir signalisiert, dass es Zeit wird zu
gehen, doch nach stundenlangem Sitzen stupst mich etwas an, und als ich auf die
Uhr blicke, ist es Zeit aufzubrechen. Ich muss nach Indonesien fliegen. Wie
eigenartig, wie seltsam. Also stehe ich auf und verbeuge mich vor dem Foto
Swamijis - des Herrischen, Herrlichen, Hitzigen. Dann schiebe ich, direkt unter
seinem Bild, einen Zettel unter den Teppich. Zwei Gedichte stehen darauf, die
ich während der vier Monate verfasst habe. Es sind meine ersten wirklichen
Gedichte. Der neuseeländische Klempner/Dichter hatte mich dazu ermutigt. Eines
habe ich geschrieben, als ich erst einen Monat hier war, das andere heute
Morgen.
    Dazwischen aber fand ich Gnade - kiloweise.
     
    72
     
    Zwei Gedichte aus einem Ashram in Indien:
    All das Gerede von Nektar und Wonne kotzt mich an. Ich
weiß nicht, wie's dir geht, mein Freund, aber mein Weg zu Gott ist keine süße
Weihrauchschwade. Er ist 'ne Katze, ausgesetzt in einem Taubenschlag. Ich bin
die Katze - doch bin auch sie, die
aufschreien, wenn die Katze sie packt.
    Ein Arbeiteraufstand ist mein Weg zu Gott.
    Bevor sie sich nicht organisiert haben, gibt's keine Ruh.
    Ihre Streikposten sind so furchterregend,
    dass sich nicht mal die Nationalgarde in ihre Nähe wagt.
    Ein kleiner brauner Mann, den ich nie sah,
    hat - unbewusst - mir meinen Weg gebahnt.
    Bis zu den Knien im Dreck, barfuß und ausgehungert,
    Malaria im Blut, jagte er Gott durch Indien nach,
    schlief in

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