Gilbert, Elizabeth
schweigende,
ätherische Präsenz« erlebt hätten, konnte ich nur noch lachen. Das stille
Mädchen im rückwärtigen Tempelteil hatte ich erst in dem Augenblick werden
können, als ich gelernt hatte, mein lautes, schwatzhaftes, geselliges Wesen zu
akzeptieren.
Während meiner letzten Wochen in Indien machte sich eine
melancholische Stimmung im Ashram breit, die an die letzten Tage in einem
Sommerlager erinnerte. Jeden Morgen reisten weitere Leute ab. Neuankömmlinge
blieben aus. Es war schon fast Mai, der Monat, in dem in Indien die heißeste
Jahreszeit beginnt und das Leben im Ashram für eine Weile abflaut. Weitere
Einkehrtage würden daher vorläufig nicht stattfinden, so dass ich wieder für
andere Jobs eingeteilt wurde, und zwar jetzt im Anmeldebüro, wo ich die bittersüße
Aufgabe erhielt, all meine Freunde, sobald sie den Ashram verlassen hatten,
auch aus dem Computer zu löschen.
Ich teilte das Büro mit einem lustigen Exfriseur von der Madison
Avenue. Beim Morgengebet waren wir jetzt nur noch zu zweit, und gemeinsam
intonierten wir unsere Hymne.
»Meinst du, wir könnten heute mit ein bisschen mehr Tempo
singen?«, fragte mich der Friseur eines Morgens. »Und vielleicht eine Oktave
höher? Sonst klinge ich wie eine spirituelle Version von Count Basie.«
Inzwischen bin ich hier viel allein. Vier, fünf Stunden
pro Tag verbringe ich in den Meditationshöhlen. Stundenlang halte ich es in
meiner Gesellschaft aus, fühle mich wohl in meiner Gegenwart, und mein Dasein
auf diesem Planeten irritiert mich nicht mehr. Manchmal sind meine
Meditationen surreale und körperliche Erfahrungen der Kundalini
Shakti von absolut rückgratverkrümmender und das Blut zum Wallen
bringender Heftigkeit. Ich versuche, sie hinzunehmen, mich möglichst wenig zur
Wehr zu setzen. Dann wieder erlebe ich ein süßes ruhiges Glück, und auch das
ist schön. Immer noch formen sich Sätze in meinem Kopf, und noch immer
veranstalten die Gedanken ihre kleinen Schautänze, aber inzwischen kenne ich
meine Denkmuster so gut, dass sie mich nicht mehr stören. Meine Gedanken sind
wie alte Nachbarn geworden, irgendwie lästig, aber letztlich doch recht
liebenswert: Mr und Mrs Igittigitt und ihre drei doofen Kinder Bläh, Bläh und
Bläh. Sie bringen mich nicht mehr aus der Fassung. In dieser Gegend ist für uns
alle Platz.
Was die übrigen Wandlungen betrifft, die sich in diesen letzten
paar Monaten in mir vollzogen haben - vielleicht spüre ich sie ja noch gar
nicht. Freunde, die schon sehr lange Yoga praktizieren, behaupten, dass man
die Wirkung eines Ashrams erst dann wirklich erkennen könne, wenn man ihn
hinter sich lasse und in sein normales Leben zurückkehre. »Erst dann«, meinte
die Exnonne aus Südafrika, »wirst du allmählich merken, dass es dein gesamtes
Innenleben völlig umgekrempelt hat.« Natürlich bin ich mir momentan nicht so
ganz sicher, wie mein normales Leben aussieht. Schließlich ziehe ich
vielleicht demnächst zu einem alten Medizinmann nach Indonesien - ist das etwa
mein normales Leben? Mag sein. Wer weiß. Jedenfalls zeigen sich die
Veränderungen erst später. Man wird vielleicht feststellen, dass lebenslange
Obsessionen verschwunden oder unangenehme, unauflösbare Muster schließlich
doch in Bewegung geraten sind. Geringfügige Irritationen, über die man sich
früher extrem geärgert hat, sind fortan kein Problem mehr, während abgrundtiefe
Qualen, die man einst gewohnheitsmäßig ertrug, jetzt nicht einmal mehr fünf
Minuten lang toleriert werden. Vergiftete Beziehungen werden ausgelüftet oder
abgewickelt, und angenehmere Menschen treten in unser Leben.
Gestern Abend konnte ich nicht einschlafen. Nicht aus Angst,
sondern vor lauter Spannung und Vorfreude. Ich zog mich an, um einen
Spaziergang durch die Gärten zu machen. Der Mond war rund und voll und
leuchtete direkt über mir. Die Luft war von Jasminduft erfüllt und vom
berauschenden Aroma jenes blühenden Strauchs, der hier wächst und nur in der
Nacht seine Blüten öffnet. Der Tag war feucht und heiß gewesen, und Hitze und
Feuchtigkeit hatten kaum nachgelassen. Die warme Luft strich um mich herum,
und ich spürte: Ich bin in Indien!
Ich hab Sandalen an und bin in Indien!
Ich rannte los, galoppierte die Wiese hinunter, raste geradezu
über das mondbeschienene Gras. Nach monatelangem Yoga, vegetarischem Essen und
frühem Schlafengehen fühlte ich mich so lebendig und gesund. Im weichen,
taunassen Gras machten meine Sandalen
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