Gilbert, Elizabeth
erstaunlich und mächtig, weil sie uns
über eine gewaltige Entfernung hinwegtragen muss. Das größtmögliche
Dampfschiff, das unsere Fantasie sich ausmalen kann.
Häufig entwickeln sich religiöse Rituale aus mystischen
Experimenten. Ein beherzter Kundschafter bricht auf und sucht nach einem neuen
Weg zum Göttlichen, macht eine Transzendenzerfahrung und kehrt als Prophet in
die Heimat zurück. Er oder sie bringt der Gemeinschaft Geschichten vom Himmel
und Karten, die beschreiben, wie man dorthin gelangt. Andere wiederholen dann
die Worte, Werke, Gebete oder Handlungen dieses Propheten, um ebenfalls »überzusetzen«.
Manchmal hat die Sache Erfolg - manchmal kann die immerfort wiederholte
vertraute Kombination von Silben und religiösen Praktiken Generationen von
Menschen auf die andere Seite befördern. Manchmal aber funktioniert es auch
nicht. Sogar die originellsten Ideen verfestigen sich irgendwann zu Dogmen oder
funktionieren nicht mehr für alle.
Gern erzählt meine Meisterin die Geschichte von dem großen
indischen Heiligen, um den sich in seinem Ashram stets treue Anhänger
versammelten. Tag für Tag meditierten der Heilige und seine Jünger über viele
Stunden. Nur ein Problem gab es: Der Heilige hatte ein Kätzchen, ein lästiges Geschöpf,
das gern miauend und schnurrend durch den Tempel spazierte und so alle beim
Meditieren störte. Also befahl der Heilige, der gesunden Menschenverstand
besaß, die Katze für ein paar Stunden am Tag, nur während der Meditation,
draußen an einen Pfosten zu binden, damit sie niemanden ärgerte. Dies wurde
zur Gewohnheit - man band die Katze an den Pfosten und meditierte. Die Jahre
vergingen, und die Gewohnheit verfestigte sich zum religiösen Ritual.
Schließlich konnte niemand mehr meditieren, wenn nicht die Katze am Pfosten
festgebunden war. Dann aber starb eines Tages die Katze. Und eine panische
Angst erfasste die Jünger des Heiligen. Es kam zu einer ernsthaften religiösen
Krise: Wie sollte man nun - ohne eine an den Pfosten zu bindende Katze -
meditieren? Wie sollte man zu Gott gelangen? In ihren Köpfen war die Katze zum
Mittel der Entrückung geworden.
»Achtet darauf«, warnt meine Meisterin, »euch nicht zu
sehr an die Wiederholung religiöser Rituale um ihrer selbst willen zu klammern.
Das Festbinden der Katze am Pfosten hat noch keinem zur Transzendenz verholfen,
sondern lediglich das fortwährende Verlangen des jeweiligen Suchers, die ewige
Barmherzigkeit des Göttlichen zu erfahren. Flexibilität ist ebenso wesentlich
für das Göttliche wie Disziplin.«
Haben wir das einmal akzeptiert, bleibt uns die Aufgabe,
weiterhin nach jenen Metaphern, Ritualen und Lehrern zu suchen, die uns dem
Göttlichen näher bringen. Den yogischen Schriften zufolge können wir darauf
vertrauen, dass Gott die Gebete der Menschen erhört und ihre Bemühungen
würdigt, egal, auf welche Weise die Sterblichen ihn auch verehren - immer
vorausgesetzt, dass die Gebete und Bemühungen aufrichtig sind. In den
Upanischaden heißt es hierzu: »Ihren Temperamenten entsprechend folgen die
Menschen unterschiedlichen Pfaden, krummen oder geraden, je nachdem, was sie
als das Angemessenste oder das Beste betrachten, und alle kommen zu dir, so
wie die Ströme in den Ozean münden.«
Ein weiteres wichtiges Ziel der Religion ist natürlich der
Versuch, unsere chaotische Welt zu begreifen und Erklärungen für die
unerklärlichen Dinge zu finden, die sich tagtäglich auf Erden abspielen:
Unschuldige leiden, Böse werden belohnt - was soll man von alledem halten? »Das
alles«, heißt es in der westlichen Tradition, »wird nach dem Tod im Himmel und
in der Hölle geklärt.« (Und geurteilt und Gerechtigkeit geübt wird dabei natürlich
von einem, den James Joyce als »Henker-Gott« bezeichnete - einer väterlichen Gestalt,
die auf ihrem Richterstuhl sitzt, die Bösen bestraft und die Guten belohnt.) Im
Osten aber wird jeder Versuch, das Chaos der Welt zu begreifen, mit einem Achselzucken
abgetan. In den Upanischaden etwa ist man sich des chaotischen Weltzustands
nicht einmal völlig sicher, sondern deutet an, dass uns die Welt möglicherweise
nur aufgrund unserer beschränkten Sicht so chaotisch erscheint. In diesen
Texten wird niemandem Gerechtigkeit versprochen oder Rache angedroht, jedoch
behauptet, dass jede Handlung ihre Folgen zeitige. Allerdings werden sich diese
Konsequenzen möglicherweise nicht sofort zeigen. Yoga betrachtet die Dinge
stets auf lange Sicht. Darüber hinaus deuten die
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