Gilbert, Elizabeth
»Wayan die zweite Macht« trägt. Und
so weiter. Hat man Zwillinge, benennt man auch sie nach der Reihenfolge der
Entbindung. Weil es im Grunde nur vier Namen gibt (die höherkastigen Eliten
haben ihr eigenes Namensrepertoire), ist es durchaus möglich (und kommt
tatsächlich recht häufig vor), dass zwei Wayans heiraten. Selbstverständlich
heißt dann auch ihr erstgeborenes Kind wieder Wayan.
Das System der Namensgebung vermittelt vielleicht eine
annähernde Vorstellung davon, wie wichtig die Familie auf
Bali ist, und damit verbunden auch die eigene Position innerhalb der Familie.
Man könnte meinen, dass dieses System kompliziert wäre, aber irgendwie kommen
die Balinesen damit klar. Verständlicherweise sind Spitznamen sehr populär.
Eine der erfolgreichsten Geschäftsfrauen in Übud etwa ist eine gewisse Wayan,
die ein gut besuchtes Restaurant namens Café Wayan führt und
deswegen als »Wayan Cafe« bekannt ist - was so viel bedeutet wie: »Die Wayan,
der das Café Wayan gehört«. Andere Leute kennt man vielleicht als »den dicken
Made« oder als »Nyoman-Rental-Car« oder
»den-blöden-Ketut-der-das-Haus-seines-Onkels-abgefackelt-hat«. Mein neuer
balinesischer Freund umging das Problem, indem er sich einfach Mario nannte.
»Und warum Mario?«
»Weil ich liebe alles, was italienisch ist«, sagte er.
Als ich ihm erzählte, dass ich kürzlich vier Monate in Italien
war, fand er das so fantastisch und verblüffend, dass er hinter seinem Schalter
hervorkam und sagte: »Komm, sitz, erzähl.« Ich kam, ich setzte mich und wir
unterhielten uns. Und wurden dabei Freunde.
Folglich beschließe ich an diesem Nachmittag, die Suche
nach meinem Medizinmann zu beginnen, indem ich meinen neuen Freund Mario frage,
ob er zufällig einen Mann namens Ketut Liyer kennt.
Mario runzelt nachdenklich die Stirn.
Ich höre ihn schon sagen: »Oh ja! Ketut Liyer! Alte Medizinmann,
letzte Woche gestorben - sehr traurig, wenn ehrwürdige alte Medizinmann
stirbt... «
Mario bittet mich, den Namen zu wiederholen, und diesmal
schreibe ich ihn auf, da ich fürchte, ihn falsch auszusprechen. Und
tatsächlich, Mario erkennt den Namen wieder. Er strahlt. »Ketut Liyer!«
Jetzt höre ich ihn schon antworten: »Ah, ja! Ketut Liyer!
Sehr krank in Kopf! Letzte Woche wegen Randalieren verhaftet
... «
Stattdessen aber sagt er: »Ketut Liyer ist berühmte Heiler.«
»Ja! Das ist er!«
»Ich ihn kenne. Ich gehe in sein Haus. Letzte Woche ich
bringe meine Cousine, braucht Kur für Baby, weint ganze Nacht. Ketut Liyer
bringt in Ordnung. Einmal ich amerikanische Mädchen wie du in Ketut Liyer Haus
gebracht. Mädchen will Zauber, will schön sein für Männer. Ketut Liyer macht
Zauberbild, hilft ihr, schön werden. Danach ich necke sie. Jeden Tag ich sage
zu ihr: >Bild funktioniert! Guck, wie du bist schön! Bild funktioniert!<«
Ich erinnere mich an das Bild, das Ketut Liyer mir vor
zwei Jahren gezeichnet hat, und erzähle Mario, dass auch ich mal ein Zauberbild
vom Medizinmann bekommen hätte.
Mario lacht. »Bild funktioniert für dich auch!«
»Mein Bild sollte mir dabei helfen, Gott zu finden«, erkläre
ich ihm.
»Du willst nicht schön sein für Männer?«, fragt er, verständlicherweise
irritiert.
»Hey, Mario«, sage ich, »meinst du, du könntest mich einmal
mitnehmen zu Ketut Liyer? Wenn du mal nicht so beschäftigt bist?«
»Momentan nicht«, meint er. Doch als mich gerade die
Enttäuschung überkommt, fügt er schnell hinzu: »Aber vielleicht in fünf
Minuten!«
75
Und so kommt es, dass ich - schon am Nachmittag meines
ersten Tages auf Bali - auf dem Rücksitz eines Motorrads sitze und meinen
neuen Freund, den »Italo-Indonesier« Mario, umklammere, der mit mir an
Reisterrassen vorbei zu Ketut Liyer braust. Obwohl ich in den letzten beiden
Jahren sehr oft über die Wiederbegegnung mit dem Medizinmann nachgedacht habe,
habe ich wirklich keine Ahnung, was ich bei der Ankunft zu ihm sagen werde. Und
natürlich haben wir auch keinen Termin. Kreuzen also unangekündigt vor seiner
Haustür auf.
Ich erkenne es wieder, das kleine Schild, auf dem zu lesen
steht: »Ketut Liyer - Maler«. Es ist ein typisches balinesisches
Familienanwesen. Um einen zentralen Hof herum sind verschiedene kleine,
miteinander verbundene Häuser gebaut, unter deren Dächern jeweils mehrere
Generationen zusammenleben. Eine hohe Steinmauer umgibt das gesamte
Grundstück, im hinteren Teil des Areals befindet sich ein Tempel. Ohne
anzuklopfen (die
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