Gilbert, Elizabeth
Eingänge eines solchen Anwesens haben weder Tür noch Tor) und
begleitet von der lautstarken Entrüstung einiger ausgehungerter balinesischer
Wachhunde, betreten wir den Hof, und da sitzt Ketut Liyer, der alte
Medizinmann, in seinem Sarong und seinem Golfhemd, und sieht noch genauso aus
wie vor zwei Jahren, als wir uns kennen lernten. Mario sagt etwas zu Ketut, es
klingt wie: »Hier ist eine Amerikanerin - schnapp sie dir.«
Ketut wendet mir sein wohlwollendes, fast zahnloses Lächeln
zu, und das hat etwas ungeheuer Beruhigendes - denn ich habe mich nicht
getäuscht, er ist wirklich außergewöhnlich. Sein Gesicht ist eine
aufgeschlagene Enzyklopädie der Güte. Aufgeregt und mit festem Griff schüttelt
er mir die Hand.
»Ich sehr glücklich, Sie kennen zu lernen«, sagt er.
Er hat keine Ahnung, wer ich bin.
»Komm, komm«, sagt er, und man führt mich zur Veranda
seines kleinen Häuschens, wo geflochtene Bambusmatten als Sitzmöbel dienen. Wir
nehmen Platz. Ohne zu zögern, greift er nach meiner Hand - in der Annahme, dass
ich, wie die meisten seiner westlichen Besucher, deswegen gekommen bin. Rasch
liest er mir aus der Hand, und zwar eine Kurzversion dessen, was er mir - wie
ich beruhigt registriere - schon das letzte Mal erzählt hat. An mein Gesicht
mag er sich nicht erinnern, mein Schicksal aber bietet sich (seinem geübten
Blick) unverändert dar. Sein Englisch ist besser, als ich es in Erinnerung
habe, und auch besser als Marios Englisch. Ketut spricht wie die weisen alten
Chinesen in den klassischen Kung-Fu -Filmen
eine Form des Englischen, die man auch als »grashüpferisch« bezeichnen könnte,
weil man in jeden beliebigen Satz das Kosewort »Grashüpfer« einfügen könnte.
»Ah - du hast großes Glück, Grashüpfer ...«
Ich warte, dass er in seinen Voraussagen innehält, und unterbreche
ihn dann, um ihn zu erinnern, dass ich vor zwei Jahren schon einmal bei ihm
war.
Er wirkt verblüfft. »Nicht erste Mal in Bali?«
»No, Sir. «
Er denkt angestrengt nach. »Du Mädchen aus Kalifornien?«
»Nein«, erwidere ich, und meine Stimmung purzelt weiter.
»Ich bin das Mädchen aus New York.«
Ketut sagt (und ich weiß nicht so recht, was das mit unserem
Treffen vor zwei Jahren zu tun hat): »Ich nicht mehr so attraktiv, viele Zähne
verloren. Vielleicht ich gehe mal Zahnarzt und lass neue Zähne machen. Aber zu
viel Angst vor Zahnarzt.«
Er öffnet seinen abgeholzten Mund. Tatsächlich fehlen auf
der linken Seite die meisten Zähne, und auf der rechten hat er nur gelbe
Stummel, die aussehen, als würden sie schmerzen. Er sei gestürzt, erzählt er
mir. Dabei habe er sich die Zähne ausgeschlagen.
Es tue mir Leid, das zu hören, sage ich und probiere es
dann noch einmal, langsamer sprechend: »Ich glaube nicht, dass Sie sich an mich
erinnern, Ketut. Vor zwei Jahren war ich mit einer amerikanischen Yogalehrerin
hier, einer Frau, die schon seit vielen Jahren auf Bali lebt.«
Er lächelt freudig. »Ann Barros!«
»Genau. So heißt die Yogalehrerin. Aber ich bin Liz. Ich
habe Sie damals um Hilfe gebeten, weil ich Gott näher kommen wollte. Und Sie
haben mir ein Zauberbild gezeichnet.«
Liebenswürdig zuckt er die Achseln, es ist ihm völlig
gleichgültig. »Weiß nicht«, sagt er.
Das ist so schlimm für mich, dass es schon fast wieder komisch
ist. Was mache ich jetzt auf Bali? Ich weiß nicht so recht, wie ich mir das
Wiedersehen mit Ketut vorgestellt hatte, aber irgendwie hatte ich wohl auf
eine Art superkarmische tränenreiche Wiederbegegnung gehofft. Und während ich
tatsächlich befürchtet hatte, er könnte tot sein, war es mir nie in den Sinn
gekommen, dass er sich - wenn er noch lebte - möglicherweise gar nicht an mich
erinnern würde. Jetzt erscheint es mir als Gipfel der Dummheit, dass ich mir je
einbilden konnte, unser erstes Treffen sei für ihn genauso unvergesslich
gewesen wie für mich. Vielleicht hätte ich meine Reise nach Bali wirklich
besser planen sollen.
Also beschreibe ich ihm nun das Bild, das er für mich gemalt
hat, die Figur mit den vier Beinen (»so fest auf dem Boden stehend«) und dem
fehlenden Kopf (»die Welt nicht mit dem Intellekt betrachten«) und das Gesicht
auf dem Herzen (»die Welt mit dem Herzen sehen«), und er lauscht mir höflich,
mit mäßigem Interesse, als wäre von jemand völlig anderem die Rede.
»Hm«, sagt er. Eine seiner Enkelinnen überquert den Hof,
und er grinst und winkt ihr zu. Ich verliere ihn.
Ich hasse, was ich jetzt tue, weil ich ihn
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