Gilbert, Elizabeth
Gottesfurcht und den Respekt vor den Vorfahren
verpflichtet, saß er hier Stunde um Stunde und heilte alle. Mit gekreuzten
Beinen beugte er sich über seine Bücher, starrte in Ohren und Münder, hielt
seine Hand an heiße Wangen, segnete Schüsseln mit heiligem Wasser und stellte
komplizierte Rezepte über darzubringende Opfer aus. Am Abend waren seine Augen
so müde wie die eines Feldchirurgen im amerikanischen Bürgerkrieg. Sein letzter
Patient an diesem Tag war ein tief bekümmerter Mann mittleren Alters, der über eine
schon seit Wochen andauernde Schlaflosigkeit klagte; er werde, sagte er, von
einem Albtraum geplagt, in dem er »gleichzeitig in zwei Flüssen ertrinke«.
Bis zu diesem Abend war ich mir nicht im Klaren darüber,
welche Rolle ich eigentlich in Ketut Liyers Leben spiele. Immer wieder frage
ich ihn, ob er mich wirklich um sich haben will, und immer wieder besteht er
darauf, dass ich komme und ihm Gesellschaft leiste. Zwar habe ich ein
schlechtes Gewissen, weil ich einen so großen Teil seiner täglichen Zeit für
mich beanspruche, aber er wirkt traurig, wenn ich mich gegen Ende des
Nachmittags von ihm verabschiede. Was das Englische betrifft, bringe ich ihm
wenig, ja eigentlich gar nichts bei. Was immer er vor vielen Jahrzehnten an
Englisch gelernt hat, ist inzwischen so fest in seinem Hirn verwurzelt, dass es
für Korrekturen zu spät ist. Ich kann ihm lediglich beibringen, bei meiner
Ankunft »Schön, dich zu sehen« statt »Schön, dich kennen zu lernen« zu sagen.
Heute Abend, als der letzte Patient gegangen und Ketut erschöpft
war und vor lauter Dienstmüdigkeit aussah, als wäre er sechshundert, fragte ich
ihn, ob ich gehen und ihn ein bisschen allein lassen solle. Darauf meinte er:
»Für dich ich immer Zeit.« Dann bat er mich, ihm etwas über Indien, Amerika,
Italien oder meine Familie zu erzählen. Und da wurde mir klar, dass ich nicht
Ketut Liyers Englischlehrerin bin, auch nicht seine Schülerin, sondern nur ein
ganz einfaches und kleines Vergnügen für diesen alten Medizinmann. Jemand, mit
dem er reden kann, und das gefällt ihm, weil er gern etwas über die Welt hört,
denn er hatte in seinem Leben keine Gelegenheit, sie zu sehen.
In unseren gemeinsamen Stunden auf dieser Veranda hat
Ketut mich zu allem - von den Autopreisen in Mexiko bis zur Ursache von Aids -
ausführlich befragt. Ketut hat die Insel Bali sein Leben lang nicht verlassen,
ja hat im Grunde nur wenig Zeit abseits seiner Veranda verbracht. Einmal ist er
zum Mount Agung gepilgert, dem größten und spirituell bedeutsamsten Vulkan
Balis, doch die Energie dort sei so mächtig gewesen, dass er aus Angst, vom
heiligen Feuer verzehrt zu werden, kaum habe meditieren können. Anlässlich
wichtiger Zeremonien besucht er die Tempel, seine Nachbarn laden ihn in ihre
Häuser ein, damit er dort Hochzeits- oder Volljährigkeitsrituale vollzieht,
meist aber findet man ihn auf seiner Veranda, mit gekreuzten Beinen auf seiner
Bambusmatte hockend, wo er sich, umgeben von den medizinischen
Palmblatt-Enzyklopädien seines Großvaters, um die Menschen kümmert, Dämonen besänftigt
und hin und wieder genüsslich ein Tässchen Kaffee mit Zucker schlürft.
»Ich habe Traum von dir gestern Nacht«, erzählte er mir
heute. »Dass du irgendwo mit Fahrrad herumfährst.«
Weil er an dieser Stelle innehielt, hakte ich korrigierend
nach. »Meinst du, du hattest einen Traum, in dem ich überall mit dem
Fahrrad herumgefahren bin?«
»Ja! Ich hatte Traum letzte Nacht, du herumgefahren irgendwo
und überall mit dem Fahrrad. Du so glücklich in meine Traum! Überall auf der
Welt bist du mit Fahrrad herumgefahren. Und ich folge dir!«
Schon allein bei der Vorstellung musste er lachen. Vielleicht
würde er ja gern ...
»Vielleicht kannst du mich ja mal in Amerika besuchen,
Ketut«, schlug ich vor.
»Kann nicht, Liss.« Er schüttelte den Kopf, fröhlich und
schicksalsergeben. »Nicht genug Zähne für Reise mit Flugzeug.«
82
Was Ketuts Frau betrifft, so brauche ich eine Weile, um
mich mit ihr zu arrangieren. Nyomo, wie er sie nennt, ist rund und vollbusig,
hat ein steifes Hüftgelenk und rot verfärbte Zähne, was vom
Betelnusstabakkauen kommt. Die Zehen sind arthritisch verkrümmt. Ihr Blick ist
durchdringend. Schon bei der ersten Begegnung hat sie mir Angst eingejagt; sie
hat diese grimmige Ausstrahlung alter Damen, die man zuweilen bei italienischen
Witwen oder selbstgerechten Müttern, die regelmäßig zur Kirche gehen, erlebt.
Sie
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