Gilbert, Elizabeth
war
Bali dann genauso geteilt und gewalttätig wie der restliche Archipel, und wenn
es ein Westler in den fünfziger Jahren überhaupt gewagt hätte, Bali zu
besuchen, hätte er gut daran getan, mit der Pistole unterm Kopfkissen zu
schlafen. In den sechziger Jahren machte der Machtkampf zwischen Nationalisten
und Kommunisten ganz Indonesien zum Schlachtfeld. Nach einem Putschversuch in
Jakarta 1965 schickte man Soldaten mit
Namenslisten mutmaßlicher Kommunisten auf die Insel. Eine Woche lang zogen die
Soldaten, von örtlicher Polizei und Dorfvorstehern unterstützt, mordend durch
alle Bezirke. Fast hunderttausend Leichen verstopften die schönen Flüsse Balis,
als die mörderische Treibjagd zu Ende war.
Ende der sechziger Jahre erlebte der Traum vom sagenhaften
Eden sein Revival, als die indonesische Regierung beschloss, Bali für den
internationalen Tourismus als »Insel der Götter« neu zu erfinden, und eine
ungeheuer erfolgreiche Werbekampagne startete. Die Touristen, die nun wieder
nach Bali gelockt wurden, waren eine recht hochgemute Truppe, deren Interesse
vor allem der balinesischen Kultur und der ihr eigenen künstlerischen Schönheit
galt. Über die düsterere Historie sah man hinweg. Und tut es bis heute.
Nachdem ich an meinen Nachmittagen in der örtlichen
Bücherei alles das gelesen habe, bleibe ich etwas verwirrt zurück. Weshalb
eigentlich war ich nach Bali zurückgekehrt? Um nach dem Gleichgewicht zwischen
weltlichem Genuss und spiritueller Hingabe zu suchen, nicht wahr? Ist das hier
überhaupt der richtige Ort für eine solche Suche? Leben die Balinesen denn
tatsächlich in dieser friedlichen Balance, und tun sie es mehr als die Menschen
in anderen Teilen der Welt? Einen ausgeglichenen Eindruck machen sie ja
durchaus - kein Wunder bei all dem Tanzen, Beten, Feiern und Lächeln, all der
Schönheit. Aber was sich unter der Oberfläche abspielt, das weiß ich nicht.
Die Polizisten stecken sich Blumen hinter die Ohren, aber die Korruption ist
allgegenwärtig, in Bali genauso wie im restlichen Indonesien (wie ich vorgestern
persönlich erleben durfte, als ich einem Uniformierten einige hundert Dollar
über den Tisch schob, um mein Visum zu verlängern, damit ich schließlich doch
vier Monate auf Bali bleiben kann). Die Balinesen leben buchstäblich von ihrem
Image, das friedlichste, einfachste und kreativste Volk der Welt zu sein. Aber
wie viel von diesem Image beruht auf Tatsachen und wie viel ist ökonomisch
kalkuliert? Und wie viel wird eine Außenstehende wie ich je von all der Mühsal erfahren,
die sich möglicherweise hinter diesen »strahlenden Gesichtern« verbirgt? Es
gilt hier wie überall: Geht man zu nah an ein Bild heran, zerfließen alle
klaren Linien zu einer pixeligen Masse.
Fürs Erste kann ich nur sagen, dass ich das Haus, das ich
gemietet habe, liebe, und die Menschen auf Bali mir ausnahmslos mit großer
Liebenswürdigkeit begegnet sind. Ihre Kunst und ihre religiösen Zeremonien
finde ich schön und aufbauend; und sie scheinen das genauso zu sehen. Doch was
immer die Balinesen tun müssen, um ihr Gleichgewicht zu halten (oder ihren
Lebensunterhalt zu verdienen), ist allein ihre Sache. Ich bin nach Bali
gekommen, um etwas für meine eigene Ausgeglichenheit zu tun, und habe,
wenigstens bis jetzt, das Gefühl, als fände ich hier ein günstiges Klima dafür.
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Ich weiß nicht, wie alt mein Medizinmann ist. Ich habe ihn
gefragt, aber er ist sich nicht sicher. Vor zwei Jahren, meine ich mich zu
entsinnen, sagte der Übersetzer, er sei achtzig. Aber als Mario ihn vorgestern
nach seinem Alter fragte, meinte Ketut: »Vielleicht fünfundsechzig, nicht
sicher.« Auf meine Frage, in welchem Jahr er geboren sei, sagte er, seine
Geburt sei ihm nicht in Erinnerung. Ich weiß, dass er zur Zeit der japanischen
Besetzung Balis im Zweiten Weltkrieg schon erwachsen war. Daraus ergäbe sich
ein heutiges Alter von ungefähr achtzig Jahren. Aber als er mir erzählte, wie
er sich als junger Mann den Arm verbrannt hatte, und ich ihn fragte, in welchem
Jahr das passiert sei, meinte er nur: »Ich weiß nicht. Vielleicht 1920?« Wie alt
wäre er dann heute? Vielleicht hundertfünf?
Außerdem ist mir aufgefallen, dass sich die Einschätzung
seines Alters je nach Gefühlslage von Tag zu Tag ändert. Ist er richtig müde,
sagt er seufzend: »Vielleicht fünfundachtzig heute«, doch wenn sich seine Laune
dann wieder hebt, erklärt er: »Ich denke, ich heute sechzig.« Vielleicht ist
das eine ebenso
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