Gilbert, Elizabeth
sieht aus, als würde sie einem für den kleinsten Fauxpas das Fell gerben.
Zunächst betrachtete sie mich offenbar mit Misstrauen (wer ist dieser Flamingo,
der da jeden Tag durch mein Haus stakst?). Aus dem rußigen Dunkel ihrer Küche
starrte sie - von meiner Existenzberechtigung durchaus nicht überzeugt - zu
mir heraus. Ich lächelte sie dann an, während sie einfach weiterstarrte und
sich wohl überlegte, ob sie mich nun mit dem Besenstiel verjagen sollte oder
nicht.
Dann aber trat eine allmähliche Veränderung ein. Und zwar
nach der Sache mit den Fotokopien.
Ketut Liyer hat all diese Stapel von alten linierten Notizbüchern
und fetten Schwarten, die in winzig kleiner Handschrift uralte
Heilungsmysterien enthalten. Niedergeschrieben hat er diese Notizen in den
vierziger oder fünfziger Jahren, irgendwann nach dem Tod seines Großvaters, um
sämtliche medizinischen Informationen schwarz auf weiß zu haben. Dieses
Material ist von unschätzbarem Wert. Ketut besitzt unzählige Daten über seltene
Pflanzen und ihre medizinischen Eigenschaften. Er nennt etwa sechzig Seiten
voller chiromantischer Diagramme sein Eigen, sowie weitere Kladden, berstend
von astrologischen Daten, Mantras, Zaubersprüchen und Rezepten. Leider haben
diese Notizbücher durch Monsunregen und Mäusefraß Schaden genommen und sind
völlig zerfleddert. Vergilbt, brüchig und schimmlig sehen sie aus wie
Herbstlaub. Jedes Mal, wenn er eine Seite umschlägt, zerreißt er dabei eine
andere.
»Ketut«, sagte ich letzte Woche zu ihm und hielt eine seiner
Kladden in die Höhe, »ich bin zwar kein Doktor wie du, aber ich glaube, dieses
Buch liegt im Sterben.«
Er lachte. »Du glaubst, es sterben?«
»Als Expertin, Sir«, sagte ich feierlich,
»kann ich dazu nur sagen: Wenn dieses Buch nicht bald Hilfe bekommt, wird es
binnen sechs Monaten tot sein.«
Dann fragte ich ihn, ob ich es mit in die Stadt nehmen und
fotokopieren dürfe, bevor es seinen Geist aufgab. Ich musste ihm erklären, was
Fotokopieren ist, und ihm versichern, das Buch nicht länger als vierundzwanzig
Stunden zu behalten und ihm keinen Schaden zuzufügen. Nachdem ich ihm versprochen
hatte, vorsichtig mit der Weisheit seines Großvaters umzugehen, gestattete er
mir schließlich, es von seiner Veranda zu entführen. Ich strampelte in die
Stadt hinunter zu den Läden mit den Computern und Fotokopierern, kopierte behutsam
Seite für Seite und ließ die kopierten Blätter in einen hübschen Plastikeinband
binden. Schon am nächsten Vormittag brachte ich ihm die alte und die neue
Ausgabe des Buches zurück. Ketut war verblüfft und entzückt, fürchtete allerdings
auch, dass ich zu viel Geld ausgegeben haben könnte, »weil, ich glaube du
verloren viel Geld in Scheidung letztes Jahr«, doch ich versicherte ihm, dass
das völlig in Ordnung gehe. Er sei ja so glücklich, denn er besitze dieses
Notizbuch bereits seit fünfzig Jahren - was tatsächlich »fünfzig Jahre«
bedeuten mochte oder auch einfach nur »eine wirklich lange Zeit«.
Ob ich nicht auch seine übrigen Notizbücher kopieren
könnte, fragte ich ihn, um auch diese Informationen zu sichern. Worauf er mir
ein weiteres zerschlissenes Dokument, randvoll mit Sanskrit und komplizierten
Skizzen, unter die Nase hielt.
»Noch eine Patient!«, sagte er.
»Lass mich ihn heilen!«, erwiderte ich.
Auch das war ein großer Erfolg. Gegen Ende der Woche hatte
ich bereits mehrere alte Manuskripte fotokopiert. Jeden Tag rief Ketut seine
Frau herüber, zeigte ihr die neuen Bücher und war überglücklich. Ja, er war
völlig aus dem Häuschen. Ihr Gesicht zeigte keine Regung, doch die Beweisstücke
sah sie sich genau an.
Und als ich am nächsten Montag zu Besuch kam, brachte
Nyomo mir heißen Kaffee, den sie in einem Marmeladenglas servierte. Ich
beobachtete sie, wie sie das Getränk auf einer Porzellanuntertasse über den Hof
trug und langsam hinkend den langen Weg von ihrer Küche zu Ketuts Veranda
zurücklegte. Ich dachte, der Kaffee sei für Ketut bestimmt, aber nein - der
hatte seinen schon. Der hier war für mich. Sie hatte ihn extra für mich
gekocht. Ich wollte mich bei ihr bedan ken, doch sie wirkte verärgert und
scheuchte mich weg, so ähnlich, wie sie den Gockel wegscheuchte, der, immer
wenn sie Mittagessen kochte, auf ihren im Hof stehenden Küchentisch zu
springen versuchte. Aber am nächsten Tag brachte sie mir ein Glas Kaffee und
eine Zuckerschale dazu. Und am darauf folgenden ein Glas Kaffee, eine
Zuckerschale und eine kalte
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