Gilbert, Elizabeth
macht
mir begreiflich (sogar ich mit meiner Sehbehinderung begreife es), wie dieses
Bauwerk vor etwa achtzehn Jahrhunderten einmal ausgesehen haben muss.
Im Italienischen gibt es eine etwas obskure Zeitform namens passato remoto, die »entfernte Vergangenheit« oder
das historische Perfekt. Und man benutzt dieses Tempus unter anderem, um
Ereignisse der fernen Vergangenheit zu beschreiben, Ereignisse, die so weit
zurückliegen, dass wir keinerlei persönlichen Bezug mehr zu ihnen haben - wie
etwa die Geschehnisse der Antike. Meine Schwester allerdings würde in diesem
Tempus, so sie denn Italienisch spräche, wohl kaum die römische Antike
erörtern. Für sie ist das Forum Romanum weder fern noch vergangen, sondern so
gegenwärtig und nah, wie ich es ihr bin. Am nächsten Tag reist sie ab.
»Hör zu«, sage ich, »ruf mich an, wenn dein Flugzeug sicher
gelandet ist. Ich will ja nicht morbide sein, aber ...«
»Ich weiß, Süße«, antwortet sie. »Ich liebe dich auch.«
30
Manchmal, wenn ich darüber nachdenke, bin ich überrascht, dass
meine Schwester Ehefrau und Mutter geworden ist und ich nicht. Irgendwie hatte
ich es mir immer umgekehrt vorgestellt. Ich würde diejenige sein, hatte ich
geglaubt, die sich eines Tages in einem Haus voller schmutziger Stiefel und
brüllender Kinder wiederfindet, während Catherine als Single leben und sich die
Nächte lesend im Bett um die Ohren schlagen würde. Doch wir entwickelten uns
anders, als es uns irgendjemand hätte vorhersagen können. Und ich glaube, dass
es besser so ist. Denn entgegen allen Prophezeiungen führen wir heute beide
ein Leben, das uns entspricht. Ihre einzelgängerische Natur verlangt quasi nach
einer Familie, damit diese sie vor der Einsamkeit bewahrt; mein geselliges
Wesen hingegen hat zur Folge, dass ich mir - auch als Single - ums Alleinsein
nie Gedanken machen musste. Ich bin froh, dass sie wieder zu ihrer Familie
heimkehrt, und auch froh, dass ich noch neun Monate meines Reisejahres vor mir
habe, in denen ich lediglich essen, lesen, beten und schreiben muss.
Ich weiß immer noch nicht, ob ich mir Kinder wünsche oder
nicht. Es war so verblüffend für mich, als ich mit dreißig feststellte, dass
ich keine wollte; die Erinnerung daran ist mir eine Warnung, lieber nicht
darauf zu wetten, wie ich mit vierzig darüber denke. Ich kann nur sagen, wie
ich mich jetzt fühle: nämlich froh und dankbar, allein zu sein. Ich weiß auch,
dass ich nicht hingehen und Kinder kriegen werde, nur für den Fall, dass ich
meine Kinderlosigkeit später bedauern könnte; ich glaube nicht, dass das ein
hinreichender Grund ist, um Kinder in die Welt zu setzen. Obwohl ich vermute,
dass die Menschen sich zuweilen aus diesem Grund fortpflanzen - als
Versicherung gegen späteres Bedauern. Ich denke, die Leute kriegen aus allen
möglichen Gründen Kinder - manchmal aus dem reinen Bedürfnis heraus, ein Wesen
zu hegen und aufwachsen zu sehen, zuweilen, weil es keine andere Wahl für sie
gibt, dann vielleicht, um einen Partner zu halten oder einen Erben zu haben,
oder aber auch, weil sie nicht darüber nachgedacht haben. Die Gründe fürs
Kinderkriegen sind äußerst verschieden, und nicht alle sind unbedingt
selbstlos. Aber auch die Gründe gegen das Kinderkriegen
sind vielfältig. Und erst recht nicht unbedingt egoistischer Natur.
Ich sage das, weil ich mich immer noch mit dem Vorwurf
herumschlage, den mein Mann im Endstadium unserer Ehe so viele Male gegen mich
erhob: dem Vorwurf des Egoismus. Seiner
Ansicht nach war meine Weigerung, Kinder zu bekommen, purer Egoismus. Und
jedes Mal, wenn er diesen Vorwurf wiederholte, stimmte ich ihm uneingeschränkt
zu, nahm alle Schuld auf mich, kaufte ihm alles ab. Mein Gott, ich hatte die Kinder
ja noch nicht mal in die Welt gesetzt und vernachlässigte sie bereits, war mir
jetzt schon wichtiger als sie. War jetzt schon eine Rabenmutter. Häufig waren
diese Babys - diese Phantombabys - Thema unserer Auseinandersetzungen. Wer
würde sich um die Kinder kümmern? Wer würde bei ihnen zu Hause bleiben? Wer
würde für sie aufkommen? Wer würde die Babys nachts füttern? Ich erinnere
mich, dass ich einmal, als meine Ehe immer unerträglicher wurde, zu meiner
Freundin Susan sagte: »Ich will nicht, dass meine Kinder in einem solchen
Haushalt aufwachsen.« Und Susan erwiderte: »Warum lässt du diese so genannten
Kinder nicht mal außen vor? Es gibt sie doch noch gar nicht, Liz. Warum kannst
du nicht einfach zugeben, dass du nicht
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