Gilbert, Elizabeth
fortwährend im Bewusstsein.
Jahrhundertelang war die Mafia auf Sizilien der einzig erfolgreiche
Geschäftszweig (der das Geschäft betrieb, die Bürger vor sich selbst, also der
Mafia, zu beschützen), und noch heute steckt sie ihre Hände in jedermanns
Taschen. Palermo bezeichnete Goethe einst als eine Stadt von unmöglich zu
beschreibender Schönheit - ihr heutiger Zustand lässt die glanzvolle
Vergangenheit nur erahnen. Die scheußlichen und einsturzgefährdeten Mietskasernen,
die man in den achtziger Jahren hochzog, haben die Stadt systematisch und auf
eine jeder Beschreibung spottende Weise verschandelt. Ein Sizilianer, den ich
fragte, ob diese Gebäude aus Billigbeton errichtet seien, erwiderte mir: »Oh
nein - das ist sehr teurer Beton. In jeder Ladung stecken die Leichen von
Leuten, die die Mafia umgebracht hat, und das kostet Geld. Aber natürlich macht
die Verstärkung durch all diese Knochen und Zähne den Beton noch härter.«
In einer solchen Umgebung ist es vielleicht etwas oberflächlich,
immer nur an die nächste Mahlzeit zu denken. Oder ist es, angesichts der harten
Realität, vielleicht das Beste, was man tun kann? Luigi Barzini hat in seinem
Meisterwerk Die Italiener aus dem Jahre 1964 (das er
schrieb, als er es schließlich satt hatte, sich anzuhören, was Ausländer, die
Italien entweder zu sehr liebten oder zu sehr hassten, über sein Land sagten)
versucht, die Leistungen und den Ruf seiner Kultur ins rechte Licht zu rücken
und realistisch zu beurteilen. Dabei versuchte er auch, die Frage zu beantworten,
warum die Italiener zwar die größten künstlerischen Genies aller Zeiten
hervorgebracht haben, es aber dennoch nie zu einer Weltmacht brachten. Warum
sind sie individuell so kühn, doch im Kollektiv, beispielsweise als Armee, so
unfähig? Wie kommt es, dass sie auf persönlicher Ebene so gewitzte Kaufleute
sind, als Nation aber so schlechte Kapitalisten?
Seine Antworten auf diese Fragen sind komplexer, als ich
hier andeuten kann, haben aber viel mit der italienischen Geschichte - der
Korruption örtlicher Potentaten und der Ausbeutung durch fremde Herren - zu
tun. Diese Erfahrungen führten die Italiener im Allgemeinen zu dem Schluss,
dass man niemandem und nichts auf der Welt trauen darf. Weil die Welt so
korrupt und verlogen, so wechselhaft und ungerecht ist, sollte man nur der
eigenen Sinneserfahrung trauen, und daher seien die Sinne in Italien stärker
als irgendwo sonst in Europa. Und deswegen, behauptet Barzini, tolerier ten Italiener
inkompetente Generäle, Präsidenten, Despoten, Professoren, Bürokraten,
Journalisten und Industriekapitäne, würden aber niemals unfähige »Opernsänger,
Dirigenten, Ballerinen, Kurtisanen, Schauspieler, Filmregisseure, Köche oder
Schneider ... « hinnehmen. Irgendwie kann man in einer Welt der Unordnung, der
Katastrophen und des Betrugs nur der Schönheit trauen. Nur künstlerische
Höchstleistung ist unkorrumpierbar. Vergnügen lässt sich nicht herunterhandeln.
Und manchmal ist das Essen die einzig reale Währung.
Sich der Schönheit zu widmen, kann also ein ernsthaftes
Geschäft sein - und ist nicht zwangsläufig ein Mittel, um der Realität zu
entfliehen, sondern zuweilen auch eines, um sich am Wirklichen festzuhalten,
wenn nämlich alles andere dahinschwindet. Vor nicht allzu langer Zeit
verhafteten die sizilianischen Behörden die Mitglieder einer katholischen
Bruderschaft, die in enger Verbindung zur Mafia stand - wem kann man da noch
trauen? Was darf man glauben? Die Welt ist unfreundlich und ungerecht. Sagt man
aber etwas gegen diese Ungerechtigkeit, so endet man möglicherweise,
wenigstens in Sizilien, im Fundament eines hässlichen neuen Gebäudes. Was kann
man in einer solchen Umgebung tun, um sich seiner menschlichen Würde zu
versichern? Vielleicht überhaupt nichts. Vielleicht nichts, außer stolz darauf
zu sein, dass man seinen Fisch stets perfekt filetiert oder den lockersten Ricotta
der ganzen Stadt herstellt.
Ich will niemanden beleidigen, indem ich zu viele Vergleiche
zwischen mir und den leidgeprüften Sizilianern ziehe. Die Tragödien in meinem
Leben sind persönlicher und weitgehend hausgemachter Natur und haben nichts
mit Unterdrückung oder Ausbeutung zu tun. Ich habe eine Scheidung und eine
Depression hinter mir, nicht einige Jahrhunderte Tyrannei. Ich hatte eine
Identitätskrise, aber auch die (finanziellen und emotionellen) Mittel, um
darüber hinwegzukommen. Dennoch würde ich sagen, dass dasselbe, was
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