Gilbert, Elizabeth
Haus,
das sich in einem Hain aus Oliven-, Klementinen- und Zitronenbäumen versteckt.
Im offenen Kamin hat man bereits ein Feuer entfacht. Das Olivenöl ist selbst gepresst.
Für das Braten eines Zehnkilotruthahns bleibt selbstverständlich
keine Zeit, doch Luca sautiert ein paar schöne Putenbrustschnitzel, und ich
improvisiere - mit tatkräftiger Unterstützung einiger anderer Gäste - eine Thanksgiving- Füllung,
die wir aus Brotkrumen und kulturbedingten Ersatzzutaten (Datteln statt
Aprikosen, Fenchel statt Sellerie) zusammenmixen. Irgendwie wird sie toll.
Angesichts der Tatsache, dass die Hälfte der Gäste kein Englisch und die andere
Hälfte kein Italienisch kann (und nur Sofie Schwedisch spricht), hatte sich Luca
um die Unterhaltung bei Tisch Sorgen gemacht, aber seine Befürchtungen
erweisen sich als unbegründet: Alle verstehen einander, oder der Nachbar kann
zumindest beim Übersetzen helfen - falls mal ein Wort auf der Strecke zu
bleiben droht.
Als Deborah den Vorschlag macht, an diesem Abend einem
schönen amerikanischen Brauch zu folgen, indem wir uns an den Händen fassen, um
uns dann - reihum - mitzuteilen, wofür wir dankbar sind, zähle ich die
Flaschen sardischen Weins, die wir trinken, schon längst nicht mehr. In drei
Sprachen entsteht dann eine Montage der Dankbarkeit.
Deborah eröffnet den Reigen und sagt, sie sei dankbar,
dass Amerika bald die Chance bekomme, einen neuen Präsidenten zu wählen. Sofie
erklärt (zuerst auf Schwedisch, dann auf Italienisch und schließlich auf
Englisch), sie sei dankbar für die Herzlichkeit der Italiener und für die vier
Monate, in denen sie so viel Freude habe erleben dürfen. Die ersten Tränen
fließen, als Mario, unser Gastgeber, Gott auf richtig
für seine Arbeit dankt, die es ihm ermöglicht habe, zur Freude seiner Familie
und seiner Freunde dieses schöne Häuschen zu bauen. Als Paolo sagt, auch er sei
dankbar, dass Amerika bald die Chance erhalte, einen neuen Präsidenten zu
wählen, erntet er einen Lacher. Wir lauschen respektvoll den Worten der kleinen
Sara (einem der Zwillingsmädchen), die uns mutig mitteilt, sie sei dankbar,
heute mit so netten Leuten zusammen zu sein, da sie es in letzter Zeit in der
Schule schwer gehabt habe - einige ihrer Mitschülerinnen seien gemein zu ihr
gewesen. »Also danke, dass ihr heute Abend so nett zu mir seid und nicht so
gemein wie sie.« Lucas Freundin sagt, sie sei dankbar für Lucas jahrelange
Treue und dafür, wie aufopferungsvoll er sich in schwierigen Zeiten um ihre
Familie gekümmert habe. Simona - die Gastgeberin - weint sogar noch
ungehemmter als ihr Mann, als sie ihre Dankbarkeit dafür ausdrückt, dass durch
die Gäste aus Amerika ein neuer Brauch des Dankens in ihrem Haus eingeführt
worden sei, durch diese Fremden, die eigentlich gar keine Fremden seien,
sondern Freunde von Luca und daher Freunde des Friedens.
Als ich an der Reihe bin, muss ich das, was mir wirklich
durch den Kopf geht, verschweigen. Etwa, wie dankbar ich bin, dass mich die
Depression, die in den letzten vier Jahren wie eine Ratte an mir genagt hat,
heute Abend verschont - eine Depression, die mich so sehr mitnahm, dass ich
bisweilen nicht in der Lage war, schöne Abende wie diesen zu genießen. Ich
erwähne nichts von alledem, weil ich die Kinder nicht erschrecken will.
Stattdessen halte ich mich an eine schlichtere Wahrheit - dass ich dankbar bin
für alte und neue Freunde. Dass ich, besonders heute Abend, dankbar bin für Luca
Spaghetti. Dass er - hoffentlich - ein langes Leben vor sich hat, um anderen
Männern als Beispiel dafür zu dienen, wie man ein großzügiger, treuer und
liebevoller Mensch sein kann. Und dass sich hoffentlich niemand daran stört,
dass ich die ganze Zeit weine - obwohl ich nicht glaube, dass es irgendjemandem
etwas ausmacht, da alle anderen ebenfalls weinen.
Luca ist so überwältigt von seinen Gefühlen, dass er sie
nicht in Worte fassen kann: »Eure Tränen sind meine Gebete.«
Immer wieder wird sardischer Wein kredenzt. Und während
Paolo das Geschirr spült, Mario seine müden Töchter ins Bett bringt, Luca Gitarre
spielt und alle betrunken und mit verschiedenen Akzenten Neil-Young-Lieder
singen, sagt Deborah, die Feministin und Psychologin, leise zu mir: »Nun schau
dir mal diese braven Italiener an. Siehst du, wie offen sie ihre Gefühle äußern
und wie liebevoll sie mit ihren Angehörigen und Freunden umgehen? Siehst du,
wie rücksichtsvoll und respektvoll sie ihre Frauen und Kinder
Weitere Kostenlose Bücher