Gilbert, Elizabeth
heulend aus dem Tempel laufen?
Heute Morgen habe ich es, statt dagegen anzukämpfen,
einfach sein gelassen. Hab aufgegeben. Mich an die Wand gelehnt. Der Rücken
tat mir weh, ich hatte keine Kraft mehr, mein Geist flatterte vor Nervosität.
Meine Yogastellung fiel in sich zusammen wie eine einstürzende Brücke. Ich nahm
mir das Mantra vom Kopf (das wie ein unsichtbarer Amboss auf mir gelastet
hatte) und stellte es neben mir auf den Boden. Und dann sagte ich zu Gott: »Es
tut mir wirklich Leid, aber näher komm ich dir heute einfach nicht.«
Die Lakota-Sioux nennen ein Kind, das nicht stillsitzen
kann, ein halb entwickeltes Kind. Und in einem alten Sanskrittext heißt es:
»An bestimmten Zeichen kannst du erkennen, ob die Meditation richtig
durchgeführt wird, zum Beispiel daran, dass sich ein Vogel auf deinem Kopf
niederlässt, weil er dich für einen unbeweglichen Gegenstand hält.« Das ist mir
noch nicht passiert. Doch in den darauf folgenden vierzig Minuten versuchte ich
mich, gefangen in dieser Meditationshalle und meinen eigenen Scham- und
Unzulänglichkeitsgefühlen, möglichst still zu verhalten, und beobachtete die
Schüler um mich herum, wie sie dasaßen in ihren perfekten Haltungen, die
perfekten Augen geschlossen hielten, ihre selbstzufriedenen Gesichter Ruhe
ausstrahlten, während sie sich garantiert in irgendeinen perfekten Himmel
versetzten. Eine unendliche Traurigkeit machte sich in mir breit, und gerne
wäre ich in tröstliche Tränen ausgebrochen, kämpfte aber dagegen an, da ich
mich an einen Ausspruch meiner Meisterin erinnerte, die einmal gesagt hatte,
dass man sich nie einen Zusammenbruch erlauben solle, da sich das sonst zu
einer Tendenz verfestigen könne und einem dann immer wieder passiere. Vielmehr
müsse man üben, stark zu bleiben.
Aber ich fühlte mich nicht stark. Alles tat mir weh vor
lauter Nichtswürdigkeit. Wer, fragte ich mich, war eigentlich »ich«, wenn ich
mit meinem Geist Gespräche führte, und wer war der »Geist«? Ich dachte nach
über die unbarmherzige, Gedanken verarbeitende, Seelen verschlingende Maschinerie
meines Gehirns und fragte mich, wie um Himmels willen ich sie jemals
beherrschen sollte. Dann erinnerte ich mich an den folgenden Satz aus dem Film Der weiße
Hai und musste lächeln:
»Wir werden ein größeres Boot brauchen.«
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Essenszeit. Ich sitze allein am Tisch und versuche,
langsam und bewusst zu essen. Die Meisterin ermuntert uns immer zu
diszipliniertem Essen. Wir sollen uns mäßigen und nicht schlingen, um die
heiligen Flammen unseres Körpers nicht zu ersticken, weil wir zu schnell zu
viel in unseren Verdauungstrakt befördern. (In Neapel, da bin ich mir ziemlich
sicher, war meine Meisterin nie.) Wenn Schüler sich bei ihr darüber beklagen,
dass ihnen das Meditieren schwer falle, erkundigt sie sich stets nach ihrer
Verdauung. Dass das mühelose Hinübergleiten in die Transzendenz
Schwierigkeiten bereitet, wenn unsere Gedärme mit der Bewältigung einer Calzone,
eines Pfunds Chicken Wings und einer halben Kokos-Sahne-Torte beschäftigt sind,
ist ja nur logisch. Deshalb werden hier solche Köstlichkeiten gar nicht erst
aufgetischt. Das Essen im Ashram ist vegetarisch, leicht und gesund. Und
trotzdem lecker - so dass ich mich schwer tue, es nicht hinunterzuschlingen
wie ein Waisenkind. Hinzu kommt, dass es zu den Mahlzeiten stets ein Buffet gibt,
und es ist mir nie leicht gefallen, einem zweiten oder dritten Vorstoß zu widerstehen,
wenn herrliches Essen offen herumliegt, gut riecht und nichts kostet.
Also sitze ich ganz allein am Abendbrottisch und bemühe
mich, meine Gabel im Zaum zu halten, als ich einen Mann mit seinem Tablett
vorbeigehen sehe, der nach einem freien Platz Ausschau hält. Nickend bedeute
ich ihm, dass er sich gern zu mir setzen kann. Ich habe den Burschen noch nie gesehen.
Muss wohl ein Neuer sein. Der Fremde hat diesen coolen Gut-Ding-hat-Weile-Gang
und bewegt sich mit der Autorität eines Grenzstadtsheriffs oder vielleicht auch
eines Spielers, der sein Leben lang um hohe Einsätze gepokert hat. Dem Aussehen
nach ist er zwischen fünfzig und sechzig, so wie er läuft, könnte er schon ein
paar Jahrhunderte mehr auf dem Buckel haben. Er hat weißes Haar, einen weißen
Bart, trägt ein kariertes Flanellhemd, hat breite Schultern und Riesenpranken,
die den Eindruck erwecken, als könnten sie erheblichen Schaden anrichten, aber
ein völlig entspanntes Gesicht.
Er setzt sich mir vis-à-vis und meint
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