Gilbert, Elizabeth
immer noch sehr würdig auf. Vor fast dreißig Jahren hat er sein
Mönchsgelübde abgelegt. Ich mag ihn, weil er sachlich und zugleich humorvoll
ist. In einem düsteren Moment, als mich die Erinnerung an David wieder einmal
in Verwirrung stürzte, hatte ich diesem Mönch meinen Liebeskummer anvertraut.
Er hatte mir respektvoll zugehört, den mitfühlendsten Rat gegeben, zu dem er
imstande war, und dann gemeint: »Und jetzt küsse ich mein Gewand.« Er hob
einen Zipfel seines safrangelben Gewands und drückte einen lauten Schmatz
darauf. In der Meinung, dies sei ein religiöser Brauch, fragte ich ihn, was er
da tue. »Was ich immer tue«, sagte er, »wenn mich jemand in
Beziehungsangelegenheiten um Rat fragt. Ich danke Gott dafür, dass ich ein
Mönch bin und mit alledem nichts mehr zu tun habe.«
Ich wusste also, dass ich ihm vertrauen und mit ihm offen
über meine Probleme mit der Gurugita reden
konnte. Eines Abends gingen wir nach dem Essen im Garten spazieren, und ich
erzählte ihm, wie sehr ich die Gurugita verabscheute,
und fragte ihn, ob er sie mir nicht erlassen könne. Sofort begann er zu lachen.
»Du musst sie nicht singen, wenn du keine Lust dazu hast«, sagte er. »Niemand
wird dich hier zu etwas zwingen, das du nicht selbst möchtest.«
»Aber es heißt doch, sie sei eine wichtige geistige
Übung.«
»Das stimmt. Aber ich werde dir nicht damit drohen, dass
du in die Hölle kommst, wenn du sie nicht singst. Ich erinnere dich lediglich
an die Worte unserer Meisterin: Die Gurugita ist der
wesentliche Text dieses Yoga und vielleicht die wichtigste Übung neben der
Meditation. Wenn du im Ashram bleibst, erwartet sie, dass du jeden Morgen zum
Chanten aufstehst.«
»Gegen das frühe Aufstehen habe ich nichts ...«
»Wogegen dann?«
Ich erklärte dem Mönch, wie sehr die Gurugita mich mit
Trauer und Zorn erfüllte, wie sie Schweißausbrüche hervorrief und mich
folterte.
»Wow«, sagte er. »Du verlierst ja schon die Fassung, wenn
du nur über sie redest.«
Es stimmte. Ich spürte, wie sich der kalte, klamme Schweiß
in meinen Achselhöhlen sammelte. »Könnte ich diese Zeit nicht einfach für
andere Übungen verwenden?«, fragte ich ihn. »Wenn ich während der Gurugita in die Meditationshöhle
gehe - hab ich zuweilen festgestellt -, krieg ich eine gute Schwingung fürs
Meditieren.«
»Ah - dafür hätte Swamiji dich angeschrien. Hätte dich
eine Chant-Diebin genannt, weil du dich von der Energie tragen lässt, die
andere mit großer Anstrengung erzeugen. Sieh mal, die Gurugita soll ja
nicht in erster Linie Spaß machen. Sie hat eine andere Funktion. Sie ist ein
Text von unvorstellbarer Kraft. Eine mächtige Reinigungspraxis. Sie verbrennt
all deinen Schrott, deine negativen Gefühle. Und wenn du beim Chanten derart
starke Gefühle und körperliche Reaktionen erlebst, wird sie - glaube ich -
wohl durchaus eine positive Wirkung auf dich haben. Sie kann sehr schmerzhaft
sein, kann dir aber auch unendlich gut tun.«
»Woher nehmen Sie die Motivation dabeizubleiben?«
»Was wäre denn die Alternative? Jedes Mal, wenn etwas
anstrengend wird, damit aufzuhören? Dein ganzes Leben lang nur elendig und
unfertig dahinzuleben?«
»Was soll ich tun?«
»Das musst du selbst entscheiden. Aber da du mich gefragt
hast, rate ich dir, solange du hier bist, weiter die Gurugita zu
chanten, gerade weil du so heftig darauf reagierst. Wenn du dich an etwas so
abarbeitest, kannst du sicher sein, dass es auf dich wirkt. Und das tut die Gurugita. Sie brennt
das Ego weg, verwandelt dich in reine Asche. Sie soll beschwerlich sein, Liz. Sie
hat eine Macht, die über das rational Nachvollziehbare hinausgeht. Du bist nur
noch eine Woche im Ashram, nicht wahr? Danach kannst du wieder reisen und Spaß
haben. Also chante das Ding noch siebenmal, dann musst du es nie wieder tun.
Denk an das, was unsere Meisterin sagt: Sei Erforscherin deiner eigenen
spirituellen Erfah rung. Du bist nicht als Touristin oder Journalistin
hier; du bist als Sucherin hier.«
»Sie stellen mir also keinen Freibrief aus?«
»Das kannst du selbst tun, Liz, jederzeit. So steht's im
göttlichen Vertrag mit jenem kleinen Etwas, das wir freien
Willen nennen.«
53
Also begab ich mich am nächsten Morgen mit neuer Entschlossenheit
zum Chanten, und die Gurugita beförderte
mich mit einem Tritt eine zehn Meter hohe Treppe hinunter - oder so fühlte es
sich zumindest an. Am nächsten Tag war es sogar noch schlimmer. Ich erwachte
voller Zorn, und noch ehe
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