Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
Vor Entsetzen. Aber nein, keine Spur von einem Vampir.
»Mom?« Angst in der Stimme.
Als sie ihren Blick durch die große Eingangshalle schweifen ließ, wunderte sie sich, dass ihre Mutter einen einzelnen hochhackigen Schuh mitten auf den Fliesen hatte liegen lassen. Vielleicht hatte sie ihn einfach dort vergessen. Ihre Mutter war so anders. Wunderschön, wild, eine Künstlerin. Manchmal wusste sie nicht, welcher Wochentag es war, oder sie trug zwei verschiedene Schuhe, aber das war völlig in Ordnung. Elena störte das nicht.
Dieser Schuh täuschte sie. Verleitete sie dazu, weiterzugehen.
Ein ohrenbetäubender Lärm und die Realität holten sie mit einem Schlag wieder ein, verscheuchten ihre Erinnerungen. Sie trat auf die Bremse und brachte den Wagen quietschend zum Stehen, mit der fürchterlichen Gewissheit, dass irgendetwas gerade von ihrer Windschutzscheibe abgeprallt war. »Oh Gott!« Sie löste den Gurt und stieg aus. Hatte sie jemanden angefahren?
Der Wind zerrte mit aller Macht an ihrem Haar, während ein Platzregen auf sie niederging. Wie aus dem Nichts war ein Sturm aufgezogen, eine Laune der Natur. Durch den Wind kämpfte sie sich bis zur Motorhaube vor, sie schauderte bei dem Gedanken, allein auf weiter Flur zu sein. Vielleicht hatten die meisten den Guss abwarten wollen. Da konnten sie lange warten, dachte sie und blinzelte sich den Regen aus den Augen.
An der Windschutzscheibe klebte ein Blatt, klemmte hinter einem der sich immer noch bewegenden Scheibenwischer. Ein massiver Ast lag ein paar Meter vor dem Wagen. Erleichtert atmete sie auf, aber um ganz sicherzugehen, schaute sie dennoch unter und hinter dem Wagen nach. Nichts. Außer einem Ast, der von dem Sturm hergetragen worden war. Sie zog sich wieder ins Wageninnere zurück, schlug die Tür zu und drehte die Heizung auf, denn sie war bis auf die Knochen durchgefroren. Doch schien die Kälte aus ihrem Inneren zu kommen.
Sie wischte sich mit der Hand übers Gesicht und konzentrierte sich den Rest des Weges nur noch aufs Fahren. Die Gespenster der Vergangenheit säuselten in ihr Ohr, aber sie hörte einfach nicht hin. Wenn sie nicht hinhörte, konnten sie ihr nichts anhaben, konnten sie nicht zurück in diesen Albtraum holen.
Gerade als sie vor Raphaels Haus hielt, klingelte ihr Handy. Sie hatte es in der Hosentasche, und es war völlig durchnässt, aber als sie es aufklappte, funktionierte es trotzdem. Sie erkannte die Rufnummer. »Ransom?«
»Wer sonst?« Im Hintergrund spielte Jazzmusik, die tiefe, rauchige Stimme einer Sängerin. »Mir sind interessante Sachen zu Ohren gekommen, Ellie.«
»Ich darf nichts…«, setzte sie an.
»Nein, das meine ich nicht«, unterbrach er sie. »Mir sind Sachen zu Ohren gekommen, die du erfahren solltest.«
»Schieß los.« Ransom hatte seine eigenen Kontakte; war auf der Straße aufgewachsen. Die meisten verloren ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie den Sprung von der Straße weg geschafft hatten. Nicht so Ransom– als Jäger stand er in der Hierarchie des Ghettos sogar noch über einem Rudel Vergewaltiger.
»In den letzten Tagen waren die Vampire und Engel sehr geschäftig. Man hat sie überall gesehen.«
»Okay.« Das war nichts Neues. Raphaels Leute suchten überall nach Uram oder seinen Opfern.
»Es wird gemunkelt, dass Mädchen verschwinden.«
»Ja.«
»Soll ich die Professionellen warnen?« Seine Stimme klang angespannt.
Mit einigen der Strichmädchen und exklusiven Callgirls war er befreundet. »Lass mich kurz nachdenken.« Alles, was sie über die Opfer bislang wusste, ließ sie sich noch einmal durch den Kopf gehen. »Im Moment besteht noch keine Gefahr.«
»Bist du ganz sicher?«
»Ja. Die Zielpersonen sahen alle… unschuldig aus.«
»Du meinst Jungfrauen?«
Ihr wurde mit einem Mal klar, dass sie das noch nicht überprüft hatte. Ein Versäumnis, das sie so schnell wie möglich nachholen musste. »Ja, wahrscheinlich. Trotzdem kann es sicher nicht schaden, wenn du deinen Freundinnen sagst, sie sollten aufeinander achtgeben.«
»Danke.« Erleichtert atmete er auf. »Deshalb rufe ich eigentlich gar nicht an. Auf deinen Kopf ist eine Belohnung ausgesetzt.«
Sie erstarrte. »Was?«
»Ja, und es kommt noch besser.« Seine Wut war selbst durch die Leitung spürbar. »Offenbar ist es ein Erzengel, der deinen Tod will. Was, zum Teufel, hast du ihm bloß angetan?«
Tiefe Furchen gruben sich in ihre Stirn. »Nicht ihm. Ihr.«
»Na, dann brauchst du dir ja keine Sorgen zu machen.« Reine
Weitere Kostenlose Bücher