Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
das Geheimnis nicht entreißen. »Es nieselt immer noch leicht. Seine Erstarrung müsste noch anhalten.«
»Ja.« Mit verschränkten Armen wandte sie sich von ihm ab. »Ich hatte gar nicht daran gedacht, aber die Kälte mögen sie nicht, oder?« Es war mehr eine rhetorische Frage. »Besonders nicht nach solch einer Völlerei.«
»Andererseits ist Uram kein Vampir.«
Frustriert stieß sie den Atem aus. »Was, zum Teufel, ist er dann? Sag es mir!«
»Er ist ein Blutengel.« Er trat ans Fenster, doch sie wusste, dass er weitaus düsterere Dinge sah als die nahende Morgendämmerung. »Wahrlich eine Abscheulichkeit, die es nie hätte geben dürfen.«
Sie konnte seinen Ärger förmlich spüren. »Ist er der erste?«
»So weit mein Gedächtnis zurückreicht, ist er der erste blutgeborene Erzengel, aber Lijuan behauptet, es habe auch schon welche vor ihm gegeben.«
Elenas Kopf füllte sich mit Bildern des allerältesten Erzengels. Lijuan zeigte als Einzige des Kaders überhaupt Alterungsspuren. Doch das tat ihrer exotischen Schönheit keinen Abbruch– ihr Gesicht, ihre markanten Züge, ihre blassen, hellen Augen. Und dennoch, irgendetwas stimmte mit ihr nicht. Als sei Lijuan nicht länger Teil dieser Welt.
»Der erste Erzengel, an den du dich erinnerst«, murmelte sie. »Was ist mit den gewöhnlichen Engeln?«
»Bravo, Elena.« Er starrte unverwandt aus dem Fenster, war ihr so fremd wie damals auf dem Dach. Es kam ihr vor, als seien seitdem schon Wochen vergangen. »Mit den anderen sind wir ganz leicht fertig geworden. Die meisten waren junge Männer, die Uram intellektuell nicht das Wasser reichen konnten, selbst nach seiner Verwandlung nicht.«
»Wie viele?« Sie bohrte ihren Blick in seinen Rücken, als könnte sie ihn dadurch zum Sprechen bewegen. »Einer pro Jahr?«
Als sie hinter ihn trat, trafen sich ihre Blicke im Widerschein der düsteren Scheibe. »Nein.«
Sie schluckte ihren Groll hinunter und trat neben ihn an das Fenster, sodass sie sich nun Auge in Auge gegenüberstanden. »Offenbar stellt ihr euch beim Verbergen dieser Blutgeborenen sehr geschickt an– die Menschen erzählen sich noch nicht einmal Märchen über sie.«
»In den meisten Fällen haben nur die Opfer davon erfahren– und das erst wenige Minuten vor ihrem Tod.«
»Das beruhigt mich sehr.« Sie ertappte sich dabei, dass sie an dem zarten Goldsaum einer Feder in der Nähe seines Bizeps entlangstrich. »Sag mal… dieses Blutgeborensein, ist das eine Art Wahnsinn, der von Anfang an in ihnen steckt?«
Mit einem Aufschlag seiner sinnlichen dichten Wimpern, auf die sie noch vor gar nicht allzu langer Zeit ihre Lippen gedrückt hatte, sah er sie an. »In uns allen steckt diese Möglichkeit.«
Verblüfft über seine Ehrlichkeit ließ sie die Hand sinken. »Willst du mich gar nicht davor warnen, dass es gefährlich ist, so viel zu wissen?«
»Du weißt schon zu viel.« Mit einem listigen Lächeln, das Alter, Skrupellosigkeit und andere lieber im Dunkel bleibende Dinge verriet, sagte er: »Gut, dass du mit mir im Bett warst. Niemand wird es wagen, meine Geliebte anzurühren.«
»Schade nur, dass das Interesse von Unsterblichen nur so flüchtig ist.« Obwohl ihr die Kälte der Fensternähe langsam unter die Haut kroch, regte sie sich nicht. »Wenn ich doch sowieso schon zu viel weiß, dann verrate mir doch, warum ein Engel zum Vampir wird.«
Er setzte ein undurchdringliches Gesicht auf. »Du bist immer noch ein Mensch.«
Nur knapp konnte sie sich zurückhalten, ihm einen Schlag zu versetzen. »Ich bin auch eine Jägerin, die einen Erzengel aufspüren soll. Du hast mich da hineingezogen. Jetzt gib mir auch die Waffen, die ich für diesen Kampf brauche.«
»Deine Aufgabe ist es, Uram aufzuspüren. Und dafür brauchen wir deine besonderen Fähigkeiten.«
Wir. Der Kader der Zehn.
»Wie soll ich denn meine Arbeit erledigen, wenn du mich ständig behinderst?« Nur mit Mühe konnte sie sich beherrschen. »Je mehr ich über die Zielperson weiß, desto leichter kann ich ihren nächsten Schritt voraussehen!«
Er strich ihr mit dem Finger über die Wange. »Weißt du, warum Illium seine Federn verloren hat?«
»Weil du schlechte Laune hattest?«, fragte sie wutschnaubend. »Und versuche nicht immer, das Thema zu wechseln.«
»Weil«, sagte Raphael, ließ sich von ihr nicht beirren, »er unser dunkelstes Geheimnis einem Menschen verraten hat.« Die Worte und der Tonfall, die er gebraucht hatte, ließen keinen Zweifel an seiner Macht und
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