Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
»Er kann nicht lange vor uns da gewesen sein. In Geraldines Erinnerungen hat er erst von ihr abgelassen, als er sich verfolgt fühlte.«
Aus zusammengekniffenen Augen sah sie ihn an. »Wollte er sie… wollte er sie in ein Kunstwerk verwandeln, um die Leute zu schockieren, die sie finden würden?«
»Ja.«
»Das passt zu ihm. Kannst du mal kurz einen Blick aus der Luft herunterwerfen?«
Er schlug mit den Flügeln und schwang sich in die Lüfte. Eine Freiheit, die für ihn immer selbstverständlich gewesen war, bis er die Sehnsucht nach ihr in den Augen der Jägerin gesehen hatte. Keine offenkundigen Zeichen, teilte er ihr mit, die gedankliche Kommunikation klappte mittlerweile problemlos.
»Ich gehe rein.«
Es war ungewöhnlich, wie leicht die Verständigung war. Ihm war klar, dass Elena dachte, sie spräche die Worte nur laut aus, er hingegen würde die Informationen aus ihrem Kopf erhalten, aber das stimmte nicht ganz– instinktiv wusste sie, wie sie ihre Gedanken kanalisieren musste, damit sie nicht im Chaos untergingen. Wenn sie wollte, konnte sie ihn sogar aussperren. Zwar kränkte das seine Eitelkeit, aber es faszinierte ihn auch.
Von einem Fallwind ließ er sich nach unten befördern und landete direkt hinter ihr. »Alleine gehst du da nicht hinein.« Gegen Uram konnte kein Sterblicher bestehen.
Sie widersprach ihm nicht, ihr Blick– konzentriert, ganz Jägerin– sagte ihm, dass sie in ihm dieses Mal nur eine weitere Waffe sah. Mit einem kurzen Nicken bekundete sie ihr Einvernehmen und wandte sich entschlossen dem Haus zu. Doch statt um das Haus herum zur Eingangstür zu gehen, stemmte sie ein paar seitlich gelegene Schiebetüren auf. »Ich ertrinke in seinem Geruch«, flüsterte sie. »Er ist hier.«
Raphael legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich gehe vor.«
»Für Machoallüren haben wir keine Zeit.«
»Es könnte eine Falle sein. Du bist sterblich.« Er ging hinein und überflog den Raum mit raschem Blick – die Bibliothek. »Komm.«
Auf leisen Sohlen folgte sie ihm. »Die Fährte führt ins Haus hinein.«
Er öffnete die Tür der Bibliothek zum Flur und trat hinaus. Vor ihm an der Wand hing Riker, ein hölzernes Stuhlbein durch die Kehle gerammt. Zwar lebte der Vampir noch, aber er war bewusstlos– vermutlich aufgrund der heftigen Kopfwunde, aus der ihm Blut von den Schläfen rann.
»Mein Gott«, flüsterte Elena. »Der hat vielleicht eine schlimme Woche. Lassen wir ihn hängen?«
»Solange der Pflock in ihm steckt, heilt er nicht.«
»Dann lass uns weitermachen. Mehr als einen Psychopathen zur selben Zeit kann ich nicht verkraften.« Mit dem Kopf deutete sie nach links.
Er ging in die Richtung und war nicht sonderlich überrascht, als er einen weiteren Wächter aufgespießt auf einer Skulptur fand, die noch aus Michaelas gemeinsamer Zeit mit Charisemnon stammte. Für einen Lebenden saß der Kopf nicht fest genug auf dem Hals. »Er ist tot.«
»Genickbruch?«
»Enthauptet«– er zeigte ihr, dass der Kopf nur noch an ein paar Sehnen hing– »unter gleichzeitiger Entfernung des Herzens. Das ist aber wohl eher ein Kollateralschaden. Er sollte nur aus dem Weg geräumt werden.« Dann setzte er einen Fuß auf den Treppenabsatz.
»Nein.« Elena zeigte in die andere Richtung. »Mehr in der Mitte des Hauses.«
Ein Schrei zerriss die Stille.
Schon wollte sie loslaufen, als er sie zurückhielt. »Das will Uram ja gerade.« Daraufhin schob er sie hinter sich und ging in die Richtung, aus der der Laut gekommen war. Uram war ein Meister der strategischen Kriegsführung– offenbar war er darauf gekommen, dass der Erfolg der Jagd mit Elena stand und fiel. War sie erst einmal ausgeschaltet, konnte er den Kader vielleicht jahrelang an der Nase herumführen– zwar gab es andere geborene Jäger, doch niemanden mit Elenas Talenten. Und wenn Uram nicht innerhalb des nächsten halben Jahrhunderts beseitigt wurde, würde er vermutlich mächtig genug werden, um die ganze Welt zu beherrschen. Und sie würde in Blut ertrinken.
Elena zog ihn am Flügel. Warnend sah er sie über die Schulter hinweg an, sie sollte ihn nicht ablenken. Das konnte tödlich ausgehen, selbst für einen Unsterblichen. Sie deutete stumm zu der Zimmerdecke hoch. Er nickte. Ich weiß. Wie die meisten Häuser von Engeln, hatte auch dieses hier sehr hohe Decken. Ihr Wohnzimmer bildete ebenso wie seines den Mittelpunkt des Hauses, während sich die anderen Stockwerke darum herum gruppierten. Uram würde nicht unten warten, er
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