Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
flüsterte Michaela mit gequältem Blick. »Ist es wirklich nötig, ihn zu jagen?«
Neha legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Uns bleibt keine andere Wahl, das weiß du doch. Wir können nicht zulassen, dass er seinen neuen Gelüsten frönt. Wenn die Menschen jemals davon erfahren…« Sie schüttelte den Kopf, in ihren mandelförmigen Augen stand das Wissen um die dunkelsten Geheimnisse. »Wie Monster würden sie uns fürchten.«
»Das tun sie bereits«, sagte Elias. »Um unsere Macht zu erhalten, mussten wir alle manchmal zu Monstern werden.«
Raphael war ganz seiner Meinung. Elias war einer der Ältesten unter ihnen. Auf die eine oder andere Art herrschte er schon seit Jahrtausenden, und selbst jetzt war in seinen Augen keine Ermüdung zu erkennen. Vielleicht lag es daran, dass Elias etwas hatte, das den anderen fehlte: eine Geliebte, deren Treue fast sprichwörtlich war. Elias und Hannah waren schon seit mehr als neunhundert Jahren ein Paar.
»Aber es besteht ein Unterschied«, betonte Zhou Lijuan, »ob man gefürchtet wird, weil man Ehrfurcht einflößt oder weil man verabscheut wird.«
Zwar war sich Raphael nicht ganz sicher, ob diese Grenze auch wirklich existierte, doch stammte Lijuan aus einer anderen Zeit. Sie herrschte in Asien durch ein matriarchalisches Netzwerk, das schon seit Ewigkeiten Bestand hatte und in dem bereits den Kindern Respekt vor ihr beigebracht wurde. Wenn Elias alt war, dann war Lijuan wahrhaft uralt– sie war mit ihrer Heimat China und deren Nachbarländern so verwoben, dass sie ein Teil davon geworden war. Im Flüsterton erzählte man sich Geschichten von Lijuan, und sie wurde fast wie eine Göttin verehrt. Im Vergleich dazu waren die fünfhundert Jahre, die Raphael über New York herrschte, ein bloßes Augenzwinkern. Doch konnte sich das auch als Vorteil erweisen.
Denn im Gegensatz zu Lijuan war Raphael noch nicht in solche Sphären vorgedrungen, dass er die Menschen nicht mehr verstand. Selbst vor seiner Verwandlung vom Engel zum Erzengel hatte er das chaotische Leben auf der Erde dem himmlischen Frieden seiner Brüder vorgezogen. Nun lebte er in einer der lautesten Städte der Welt, und häufig beobachtete er heimlich ihre Bürger. So wie er Elena Deveraux an diesem Tag beobachtet hatte. »Über Geheimhaltung brauchen wir gar nicht erst zu diskutieren«, sagte er, und seine Stimme mischte sich unter Michaelas leises Schluchzen. »Niemand darf wissen, was aus Uram geworden ist. So ist es schon immer gewesen, seit Anbeginn unseres Daseins.«
Alle nickten zustimmend. Sogar Michaela wischte sich die Tränen aus den Augen und lehnte sich zurück; mit geröteten Wangen, aber klarem Blick. Sie war unvergleichlich schön. Selbst unter Engelsgleichen stellte sie alle anderen in den Schatten, nie mangelte es ihr an Liebhabern oder an Aufmerksamkeit. Genau in diesem Augenblick sah sie zu ihm hinüber, und in ihren Augen lag ein wollüstiger Hunger, den er wohlweislich ignorierte. Aha. Also galt ihre Trauer gar nicht Uram, sondern sich selbst. Das passte auch viel besser zu ihrem Charakter.
»Der Jäger ist eine Jägerin«, sagte sie nur eine Sekunde später, und ihre Stimme klang leicht gereizt. »Hast du sie deshalb ausgewählt?«
»Nein.« Raphael überlegte, ob er Elena vor einer Bedrohung aus ihren Reihen warnen sollte. Konkurrenz konnte Michaela ganz und gar nicht ertragen, schließlich war sie schon seit beinahe einem halben Jahrhundert Urams Geliebte, ein unglaublicher Zeitraum für eine solch sprunghafte Natur wie sie. »Ich habe sie ausgewählt, weil sie eine ausgezeichnete Nase hat.«
»Wozu dann diese lange Zeit des Wartens?«, fragte Titus mit leiser Stimme, die im Widerspruch zu seiner massigen und muskulösen Gestalt stand. Ein Mann wie aus schwarzem Stein, so grob gehauen wie die Bergfestung, in der er zu Hause war.
»Weil Uram bislang die letzte Grenze noch nicht überschritten hat«, antwortete Raphael.
Die Engel verstummten.
»Bist du dir sicher?«, fragte Favashi sanft. Sie war die Jüngste unter ihnen und dachte von allen noch am ehesten wie ein Mensch. Ihrem Herzen und ihrer Seele hatte das unerbittliche Verrinnen der Zeit nichts anhaben können. »Wenn er es bislang nicht…«
»Du bist zu arglos«, unterbrach sie Astaad in seiner üblichen schroffen Art. »Alle seine Bediensteten und Gefolgsmänner hat er in jener Nacht umgebracht, als er Europa verlassen hat.«
»Warum hat er die Grenze dann nicht überschritten und getan… was uns für
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