Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
Einzige, der es tat und bei dem es auch von Herzen kam. »Nein, ich sehe dich eher in der Rolle des Anführers. Ohne Uram besteht die Gefahr einer Zersplitterung– und du weißt, was beim letzten Mal geschehen ist, als sich der Kader gespalten hat.«
Dunkle Zeiten für Menschen und Engel waren angebrochen, als sich die Vampire noch im Blut suhlten und die Engel zu sehr damit beschäftigt waren, sich untereinander zu bekriegen. »Warum ausgerechnet ich? Ich bin jünger als du, als Lijuan.«
»Lijuan ist… nicht mehr ganz von dieser Welt.« Auf Elias’ Stirn bildeten sich Sorgenfalten. »Sie ist meines Wissens der älteste Engel. Über Bagatellen ist sie hinaus.«
»Das ist aber keine Bagatelle.« Dennoch wusste er genau, was Elias mit seinen Worten gemeint hatte. Lijuan beschäftigte sich nicht mehr mit dem Diesseits. Ihr Augenmerk war weit in die Ferne gerichtet. »Wenn nicht Lijuan, warum nicht du? Du bist von uns allen innerlich der Gefestigtste.«
Wie einen Fächer breitete Elias seine Flügel aus, während er nachdachte. »Meine Herrschaft in Südamerika ist unangefochten. Es ist wahr, dass ich im Umgang mit Abtrünnigen Härte walten lassen kann, doch«, sagte er kopfschüttelnd, »mir liegt nichts an Blut oder Mord. Um den Kader zusammenzuhalten, muss der Anführer gefährlicher sein als jeder andere.«
»Du gibst mir damit ziemlich ungeschminkt zu verstehen, dass du mich für brutal hältst«, bemerkte Raphael leise.
Elias zuckte die Achseln. »Du verbreitest Furcht, ohne die Grausamkeit eines Astaads oder die Launenhaftigkeit einer Michaela. Deshalb bist du auch mit Uram aneinandergeraten– du warst kurz davor, dir zu nehmen, was ihm gehörte. Ob es dir bewusst ist oder nicht, du bist schon jetzt der Anführer.«
»Und nun sind wir auf der Jagd nach Uram.« In einer Art Vision sah Raphael dessen Zukunft vor sich. Aufgespürt wie ein Tier. Von einer Frau mit Haaren wie die Morgendämmerung und silbernen Katzenaugen. »Geh du ruhig nach Hause zu Hannah, Elias. Ich werde tun, was getan werden muss.« Blut vergießen und das Leben eines Unsterblichen auslöschen. Aber das war natürlich der falsche Ausdruck dafür. Ein Erzengel konnte sterben… doch nur durch einen anderen Erzengel.
»Wirst du dich heute Nacht ausruhen?«, wollte Elias wissen, als sie sich gegenüberstanden.
»Nein. Ich muss mit der Jägerin sprechen.« Mit Elena.
6
Vorläufig war Elena mit ihrer Recherche über Uram fertig und lehnte sich zurück. Übelkeit schnürte ihr den Hals zu. Urams Herrschaft hatte sich– und für die restliche Welt war er immer noch an der Macht– über Osteuropa und das angrenzende Russland erstreckt. Und genau wie Amerika hatten natürlich auch diese Länder ihre Präsidenten und Premierminister, ihre Parlamente und Ratsversammlungen, doch jeder wusste, dass die wahre Macht in den Händen der Erzengel lag. Regierung, Wirtschaft, Kunst– es gab keinen Bereich, den sie nicht direkt oder indirekt beeinflussten.
Uram war, wie es schien, eher der direkte Typ.
Gleich der erste Eintrag war ein Zeitungsbericht über den Präsidenten eines sehr kleinen Landes gewesen, das einst zur Sowjetunion gehört hatte. Der Präsident, ein gewisser Chernoff, hatte den Fehler gemacht, sich Uram öffentlich zu widersetzen, indem er die Bürger aufrief, die drakonisch geführten Betriebe des Erzengels zu boykottieren, ebenso die seiner Vampirkinder, und stattdessen menschengeführte Betriebe zu fördern. Damit konnte Elena nichts anfangen. Schließlich war es auch eine Form der Diskriminierung, ausschließlich Menschen zu bevorzugen. Was sollten denn die vielen armen Vampire machen, die den Lebensunterhalt für ihre Familien verdienen mussten? Die meisten wurden mit ihrer Wandlung nicht automatisch mächtig– das konnte Jahrhunderte dauern. Und einige blieben für immer schwach.
Nach den ersten paar Absätzen über Chernoffs politische Linie erwartete Elena, dass der Bericht mit den Begräbnisfeierlichkeiten enden würde. Doch zu ihrer Überraschung war der Präsident noch am Leben… sofern man seinen Zustand noch so nennen konnte.
Kurz nach seinen aufrührerischen Worten wurde er bedauerlicherweise in einen Verkehrsunfall verwickelt– sein Chauffeur hatte die Kontrolle über das Fahrzeug verloren und war in einen entgegenkommenden Kleinlaster gerast. Während der Fahrer nicht einmal einen Kratzer abbekommen hatte– ein wahres »Wunder«–, hatte der Präsident weniger Glück gehabt. Er hatte so viele
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