Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
gelohnt hätte.
»Nein.« Mit der Hand umschloss er ihr Handgelenk. »Ich wünsche keine weiteren Verzögerungen. Wir fliegen.«
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Buchstäblich. Als es wieder zu schlagen begann, bekam sie kaum etwas heraus. »Was?« Ein erbärmliches Quieken, mehr nicht.
Doch Raphael hatte bereits die Tür geöffnet und wollte sie mit sich ziehen.
Sie stemmte sich dagegen. »Warten Sie!«
»Entweder wir fliegen oder gehen zu Ihnen. Sie haben die Wahl.«
Mit welcher Arroganz er diese Worte aussprach. Und mit welch kaum verhohlenem Zorn. Dem Erzengel von New York gefiel es ganz und gar nicht, wenn ihm eine Abfuhr erteilt wurde. »Ich entscheide mich für keines von beiden.«
»Das kann ich nicht akzeptieren.« Er zog an ihrem Handgelenk.
Sie stemmte sich dagegen. Mehr als alles andere auf der Welt wollte sie fliegen, doch nicht in den Armen eines Erzengels, der sie in seiner augenblicklichen Stimmung vielleicht fallen ließ. »Warum haben Sie es so eilig?«
»Ich werde Sie nicht fallen lassen… nicht heute Nacht.« Sein Gesicht war so vollkommen, als gehörte es einem antiken Gott, nur dass darin nicht die Spur von Mitgefühl lag. Andererseits hatten sich diese Götter auch fast nie besonders gütig gezeigt. »Schluss jetzt.«
Und auf einmal war sie auf dem Dach, ohne überhaupt die Treppen betreten zu haben. Wut durchflammte sie wie ein weißer Blitz, doch bevor sie auch nur ihren Mund öffnen konnte, hatte er schon die Arme um sie geschlungen und war emporgestiegen. Ihr Selbsterhaltungstrieb setzte ein. Mit aller Macht. Sie schloss die Arme um seinen Hals, und als seine Flügel sich immer schneller öffneten und schlossen und das Dach unter ihnen in atemberaubender Geschwindigkeit in die Tiefe stürzte, klammerte sie sich an ihn, als hinge ihr Leben davon ab.
Der Wind peitschte ihr die Haare aus dem Gesicht und trieb ihr Tränen in die Augen. Und dann, als habe er die nötige Flughöhe erreicht, änderte Raphael seinen Neigungswinkel und schützte sie vor dem Wind. Sie fragte sich, ob er das mit Absicht getan hatte, dann wurde ihr klar, dass sie nicht den Fehler machen durfte, ihm menschliche Eigenschaften anzudichten. Er war kein Mensch. Nicht einmal annähernd.
Nur seine Flügel hatte sie vor sich gehabt, bis sie genügend Mut gefasst hatte, den Kopf zu drehen und nach unten zu schauen. Viel gab es da nicht zu sehen– sie befanden sich über der Wolkendecke. Als die Kälte ihr in die Knochen fuhr, bekam sie am ganzen Körper eine Gänsehaut. Gleich würden ihre Zähne klappern, doch sie musste etwas sagen, musste ihrem Ärger Luft machen, bevor er sich in ihr festsetzte. »Ich habe Ihnen doch gesagt«, stieß sie mit mühsamer Beherrschung hervor, »bleiben Sie aus meinem Kopf.«
Er schaute auf sie hinab. »Frieren Sie?«
»Man gebe diesem Mann einen Orden«, sagte sie mit dampfendem Atem. »Ich bin nicht zum Fliegen geschaffen.«
Ohne Vorwarnung ging er in den Sturzflug über. Auch wenn sich ihr der Magen umdrehte, rauschte ihr das Adrenalin durch die Blutbahnen. Sie flog! Vielleicht nicht aus freien Stücken, aber deswegen würde sie sich jetzt nicht die Freude daran verderben. Elena hielt sich gut fest und nahm jeden Moment in sich auf, hielt alle Sinneseindrücke intensiv fest, um sie später noch einmal in Ruhe genießen zu können. In diesem Moment war ihr auch klar, dass sie nichts zu befürchten hatte– Raphaels Arme umgaben sie stark wie Felsen, unzerbrechlich, standhaft. Sie fragte sich, ob er ihr Gewicht überhaupt spürte. Es hieß, Engel seien viel stärker als Menschen und Vampire.
»Ist es so besser?«, fragte er und berührte dabei mit den Lippen ihr Ohr.
Überrascht von dem warmen Klang seiner Stimme blinzelte sie und erkannte, dass sie jetzt knapp über den Hochhäusern schwebten. »Ja.« Keinesfalls würde sie ihm für das Erlebnis danken, dachte sie rebellisch. Schließlich hatte er sie in keiner Weise um Erlaubnis gebeten, bevor er sie himmelwärts befördert hatte. »Sie schulden mir noch eine Antwort.«
»Zu meiner Verteidigung«– sagte er erheitert–, »es war mehr eine Feststellung als eine Frage.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Warum dringen Sie immer wieder in meine Gedanken ein?«
»Es ist einfacher, als abzuwarten, bis Sie sich wieder irgendetwas eingeredet haben.«
»Das ist auch eine Form von Vergewaltigung.«
Eisige Stille, so eisig, dass Elena wieder eine Gänsehaut bekam. »Sehen Sie sich mit Ihren Anschuldigungen vor.«
»Aber es ist
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