Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
ihm eine Frau gefiel, nahm er sie sich einfach. »Wenn das kein Kontrollverlust ist, was ist es denn dann?«
»In dem Raum waren zwei Personen.«
Einen Moment lang wusste er nicht, was sie ihm damit sagen wollte. Doch dann gefror ihm das Blut in den Adern. »Sie kann mich beeinflussen?« Seit er sich vor zehn Jahrhunderten von Isis’ Herrschaft befreit hatte, hatte ihn niemand mehr beherrscht.
»Würdest du sie umbringen, wenn es wahr wäre?«
Isis hatte er umgebracht– das war damals der einzige Weg, von dem mächtigen Engel loszukommen, dem es gefallen hatte, aus ihm einen Gefangenen zu machen. »Ja«, sagte er, doch so ganz sicher war er sich nicht.
Vergewaltigung, ist es das, was Sie anmacht?
Noch immer hörte er das Echo dieser Worte in der tiefen Nacht seiner Seele. Er sah Lijuan kurz an. »Wenn sie mich beeinflusst hat, dann ist es unbewusst gewesen.« Andernfalls hätte sie ihn wohl kaum der Vergewaltigung beschuldigt.
»Bist du dir sicher?«
Wütend starrte er sie an, er war nicht zum Scherzen aufgelegt.
Sie lächelte nur noch mehr. »Ja, du bist ein ganz Schlauer. Nein, deine kleine Jägerin besitzt nicht die Macht, den Willen eines Erzengels nach Lust und Laune zu verbiegen. Überrascht es dich, dass ich weiß, wer es war?«
»Du hast Späher in meinem Turm, wie auch überall sonst auf der Welt.«
»Und spionierst du auch bei mir?«, fragte sie mit rasiermesserscharfer Stimme.
Schnell errichtete er einen Schild, um ihre schneidenden Energien abzuwehren. »Was glaubst du denn?«
»Ich glaube, dass du wesentlich stärker bist, als die anderen ahnen.« Sie wirkte berechnend, selbst jetzt, da sie einen leichteren Ton angeschlagen hatte.
Beinahe hätte Raphael sich dafür verflucht, sie aufgesucht zu haben, wenn er nicht gewusst hätte, dass dies gewissermaßen zu Lijuans Methode gehörte. Um sich mit ihr zu unterhalten, musste man ebenbürtig oder zumindest stark genug sein, um ihr Interesse zu wecken. »Wenn du keine Frau wärst, würde ich sagen, du willst wissen, wer die dickeren Eier hat.«
Sie begann tatsächlich zu kichern… auch wenn es etwas gekünstelt klang. »Wärst du mir bloß begegnet, als mir diese Dinge noch wichtig waren.« Wieder machte sie eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. »Du wärst ein guter Liebhaber gewesen.« Ihre Lippen wurden weich und sinnlich, in ihren winterkalten Augen sprühten die Funken einer verblichenen Erinnerung. »Hast du jemals mit einem Engel im Flug getanzt?«
Die Erinnerung daran traf Raphael wie ein körperlicher Schlag. Ja, er hatte getanzt. Doch nicht zum Vergnügen. Trotzdem antwortete er ihr nicht, sah sie einfach nur an, hörte ihr zu; er wusste, dass er ihr Publikum war.
»Ich hatte einst einen Liebhaber, bei dem habe ich mich wie ein Mensch gefühlt.« Sie zwinkerte. »Ungewöhnlich, nicht wahr?«
Er überlegte, wie eine junge Lijuan wohl gewesen sein mochte, und die Vorstellung gefiel ihm gar nicht. »Ist er immer noch bei dir?«, fragte er mehr aus Höflichkeit.
»Ich habe ihn umbringen lassen– ein Erzengel darf niemals wie ein Mensch empfinden.« Ihr Gesicht veränderte sich, war immer weniger von dieser Welt, wurde fast zur Karikatur eines himmlischen Wesens, eine papierene Haut über Knochen gespannt, die von innen her leuchtete. »Unter den Menschen gibt es welche– unter einer halben Milliarde vielleicht einen–, die aus uns etwas anderes machen als das, was wir eigentlich sind. Schranken fallen, der Funke springt über, und der Geist verbindet sich.«
Er blieb absolut still.
»Du musst sie töten.« Nun waren ihre Pupillen so groß geworden, dass sie die Iris verschlangen, die Augen schwarze Flammen, das Gesicht ein leuchtender Totenkopf. »Wenn du das nicht tust und bis du das tust, besteht immer die Gefahr, dass die Schranken wieder fallen.«
»Und was ist, wenn ich sie nicht töte?«
»Dann wird sie dich töten. Sie wird dich zu einem Sterblichen machen.«
13
Im Hauptquartier der Gilde brachte Ransom das Motorrad zum Stehen. Er riss sich den Helm vom Kopf und hängte ihn an den Lenker. »Meine Güte, du führst vielleicht ein aufregendes Leben, Elieanora.«
Sie rieb ihre Wange an seinem langen Zopf, der ihm über den Rücken hinunterhing; zu glücklich über seine Anwesenheit, um ihm zu sagen, er solle aufhören, sie mit diesem idiotischen Namen anzureden. Einmal, weil sie nicht so hieß– na gut, vielleicht auf der Geburtsurkunde–, aber zum anderen hörte er sich an, als sei sie ungefähr hundert Jahre alt.
Weitere Kostenlose Bücher