Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
Bestimmt hatte Dmitri früher einmal ein Schwert getragen, hatte mit den finsteren Zeiten, in denen Blut und Tod herrschten, mehr gemein als mit der Zivilisiertheit, die sein perfekter grauer Anzug vorgab. »Er ist gerade in einer Besprechung«, sagte sie und deutete mit dem Finger nach oben.
Dmitri folgte der Bewegung ihres Fingers nicht, wie es die meisten Menschen wohl getan hätten, stattdessen starrte er sie mit einer Intensität an, die die meisten das Fürchten gelehrt hätte. Vielleicht wäre es für sie auch besser gewesen. »Was haben Sie?«, fragte sie.
»Was sehen Sie, Gildenjägerin?« Seine Stimme war dunkel, raunte von Taten, die keine Zeugen vertrugen, von Schrecken, die die Schwärze der Nacht umfing.
»Sie mit einem Schwert in der Hand«, antwortete sie aufrichtig.
Dmitris Gesicht blieb unbewegt, gab nichts preis. »Ich tanze immer noch mit Stahl. Sie dürfen mir gern dabei zusehen.«
Gerade wollte sie nach einem Croissant greifen, da hielt sie kurz inne. »Hat Raphael seine Order zur Nichteinmischungspolitik zurückgenommen?« Sie war einfach davon ausgegangen, dass er es nicht hatte. Dumm. Sehr dumm.
»Nein.« Ein leichter Wind zerzauste ihm das Haar, doch sobald er sich gelegt hatte, saßen die einzelnen Strähnen wieder perfekt am Kopf. »Aber da Sie bald tot sein werden, würde ich Sie zu gerne noch einmal kosten, bevor es zu spät ist.«
»Herzlichen Dank für das Vertrauensvotum.« Fauchend biss sie in das Croissant. Es war eine Sache, wenn sie das insgeheim selbst dachte, es aus Dmitris Mund zu hören war hingegen etwas anderes. »Aber ich schlage vor, Sie bleiben bei den hübschen Blonden. Jägerblut ist zu herb für Ihren Gaumen.«
»Die Blonden machen es mir zu leicht.«
»Setzen Sie Ihre düsteren Vampirkünste bei den Frauen ein?«
Er lachte, und dieses Lachen war mehr ein Nachhall als ein Laut, es entbehrte jeder Leidenschaftlichkeit, die sie ihm bislang zugeschrieben hatte. Es klang nach Tausenden vergangener Tage und der ewigen Wiederkehr kommender Tage. »Wenn Verführung eine Kunst ist, dann ja. Schließlich hatte ich Jahrhunderte Zeit, etwas zu perfektionieren, wofür ein gewöhnlicher Mann nur ein paar lumpige Jahre hat.«
Sie konnte sich an den ekstatischen Gesichtsausdruck der Blonden erinnern, an Dmitris sinnliches Verlangen. Doch er hatte dabei nicht die Blonde angeschaut. »Haben Sie jemals geliebt?«
Kein Lufthauch regte sich, als der Vampir sie, ohne zu blinzeln, anblickte. »Ich verstehe, was Raphael an Ihnen findet. Sie haben absolut kein Gefühl für Ihre eigene Sterblichkeit.« Ein Wimpernschlag, und Dmitris Augen wandelten sich in pures Schwarz. Keine Netzhaut, keine Iris, nichts als tiefes, unglaubliches Schwarz.
Um ein Haar hätte sie das Messer aus ihrem Stiefel gezogen. Wahrscheinlich hätte er sie enthauptet, noch bevor sie überhaupt das Metall berührt hätte. »Netter Zaubertrick. Können Sie auch jonglieren?«
Totenstille, dann lachte Dmitri. »Ach, Elena. Wenn Sie tot sind, werde ich ganz bestimmt traurig sein.«
Sie entspannte sich, weil sie seinen Stimmungswandel spürte, auch wenn seine Augen noch nicht wieder normal menschlich waren. »Schön zu wissen. Vielleicht benennen Sie eins Ihrer Kinder nach mir.«
»Wir können keine Kinder bekommen, das wissen Sie doch.« Er klang ganz nüchtern. »Nur die Neugeborenen können das.«
»Durch meine Arbeit habe ich meistens mit den Unter-hundert-Jährigen zu tun– sehr alte Vampire kenne ich kaum. Jedenfalls nicht lange genug, um ausführliche Gespräche mit ihnen zu führen«, sagte sie und trank ihren Orangensaft aus. »Was verstehen Sie denn unter neugeboren?«
»Unter zweihundert oder so.« Er zuckte die Achseln wie ein Mensch. »Zu einem späteren Zeitpunkt ist mir keine Schwangerschaft oder Empfängnis bekannt.«
Zweihundert Jahre.
Das Doppelte ihrer Lebenserwartung. Und Dmitri redete davon, als sei das nichts. Wie alt war er wohl? Und wie alt war der Mann, den er Sire nannte? »Macht Sie der Gedanke traurig, niemals Kinder zu haben?«
Über sein Gesicht huschte ein Schatten. »Ich habe nicht gesagt, dass ich noch niemals Vater war.«
Da war sie voll ins Fettnäpfchen getreten, und nur Raphaels Rückkehr bewahrte sie vor der Peinlichkeit. Im richtigen Augenblick schaute sie auf und sah seine märchenhaften Flügel im Gegenlicht der Sonne schimmern.
»Wunderschön.« Geflüstert.
»Er hat Sie also bezaubert?«
Unwillig wandte sie den Blick vom Himmel ab und sah Dmitri an.
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