Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
darum wandte sie sich wieder der Gegenwart zu. Die Gespenster der Vergangenheit würden noch früh genug zurückkehren, um sie zu verfolgen. »Haben deine Wimpern dieselbe Farbe wie dein Haar?«
Mühelos konnte er ihrem Gedankengang folgen. »Ja. Sie sind sehr schön – willst du mal sehen?«
Ihr Mund zuckte. »Eitelkeit ist eine Sünde, Glockenblümchen.«
»Keine falsche Bescheidenheit, sage ich immer.« Lächelnd kam er zu ihr herübergeschlendert und ließ sich neben ihr auf dem Bett nieder. »Sieh mal.«
Neugierig tat sie wie ihr geheißen. Er hatte nicht gelogen, seine Wimpern waren tintenschwarz und hatten dieselben blauen Spitzen wie seine Haare. Zum Gold seiner Augen bildeten sie einen aufregenden Kontrast. »Nicht übel«, sagte sie leichthin.
Sein Blick verfinsterte sich. »Und ich hätte dir fast angeboten, dir die Haare zu kämmen.«
»Die kämme ich mir schon selbst, vielen Dank!« Sie schubste ihn mit der Schulter vom Bett hinunter. »Hol mir mal die Bürste.«
Er warf sie ihr zu, bevor er wieder auf den Balkon hinaustrat. »Warum hast du mich noch nicht gefragt, warum ich hier bin?«
»Ich bin noch nicht wieder ganz bei Kräften, und Raphael übertreibt ein wenig mit seiner Fürsorglichkeit, also kann ich ganz leicht eins und eins zusammenzählen.« Der Frust, den sie angesichts ihres momentanen körperlichen Zustands empfand, konnte nicht über die nackte Wahrheit hinwegtäuschen, dass ihr Kopf eine hübsche Trophäe abgäbe, und zwar für mehr als einen Unsterblichen. Insbesondere für eine der schönsten und boshaftesten Unsterblichen.
»Offenbar plant unser mörderischer Anwärter«, sagte Illium über die Schulter hinweg, »sich einen Namen zu machen, indem er dir einen Dolch der Gilde durchs Herz bohrt. Oder er hackt dir damit Stück für Stück den Kopf ab.«
Er sprach nur laut aus, was sie gedacht hatte, und das erschütterte sie. Eigentlich hätte sie es besser wissen müssen, denn, ob es ihr nun gefiel oder nicht, sie war eine Sensation in der himmlischen Welt, der erste geschaffene Engel seit Engelsgedenken, und stand deshalb im Mittelpunkt aller Interessen. »Ich glaube, ich brauche erst einmal etwas zu essen, bevor ich mir über mögliche, schmerzhafte Todesarten Gedanken machen kann.«
»Im Wohnzimmer gibt es etwas.«
»Wo ist Raphael?«
»Bei einem Treffen.«
Mehr als einmal schon hatten ihr ihre Instinkte das Leben gerettet. Ihre Hand klammerte sich um den Griff der Bürste. »Mit wem?«
»Du wirst nur wütend.«
»Ich dachte, du bist mein Freund.«
»Der in diesem Moment nur deine Nerven schonen will.«
Nerven schonen? »Hör auf, um den heißen Brei zu reden, und gib endlich Antwort.«
Mit einem tiefen Seufzer drehte er sich zu ihr herum. »Michaela.«
Erinnerungen schossen ihr durch den Kopf, bronzefarbener Engelsstaub auf Raphaels Flügeln. Verärgert biss Elena die Zähne zusammen. »Man sollte doch meinen, hier in der Zufluchtsstätte wäre zu wenig los für Ihre königliche Liederlichkeit.« New York, Mailand, Paris, das waren doch eher Michaelas Gefilde.
»Da hast du recht.« Ein Leuchten trat in seine Augen. »Anscheinend hat sie plötzlich ihr Interesse an diesem Ort entdeckt.«
Gewaltsam zerrte sie die Bürste durch ihr Haar, fand das Haargummi, das sie auf dem Nachttisch hatte liegen lassen, und band die ungebärdige Mähne zu einem Pferdeschwanz zusammen. Als Elena die Beine über die Bettkante schwang, hüstelte Illium demonstrativ. »In deinem jetzigen Zustand solltest du ihnen aber nicht unter die Augen treten.«
»So blöd bin ich nun auch wieder nicht«, murmelte Elena. »Ich brauche ein bisschen Bewegung.«
»Eigentlich müsstest du dich bis morgen früh ausruhen.«
»Glaub mir, ich kenne meinen Körper.« Stöhnend erhob sie sich. »Wenn ich diese Muskeln jetzt nicht ein wenig lockere, wird’s morgen nur noch schlimmer.«
Daraufhin sagte Illium gar nichts mehr, blickte ihr lediglich hinterher, als sie zum Badezimmer humpelte. Elena schloss die Tür und spritzte sich Wasser ins Gesicht, zwang sich, nicht daran zu denken, was sich in diesem Augenblick zwischen Raphael und Michaela abspielen könnte. Die Vorstellung, dass Raphael mit Michaela schlafen könnte, beunruhigte sie nicht so sehr – Raphael war einfach nicht der Typ, der solche Dinge hinter ihrem Rücken tat. Wenn er ihrer überdrüssig würde – und allein der Gedanke daran machte ihr zu schaffen –, würde er es ihr ins Gesicht sagen. Vielmehr ging Elena davon aus, dass er
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