Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
so angesehen?«
Trotz der Entfernung übten diese Augen aus gehämmertem Gold einen geradezu unwiderstehlichen Reiz aus. »Das könnte nur sie beantworten. Aber sie war schon Staub, lange bevor die Erde Städte aus Glas und Stahl hervorgebracht hat.« Er widmete sich jetzt wieder der vor ihm liegenden Aussicht.
Elena richtete sich in ihrem Bett auf und starrte auf Illiums wunderschöne gebogene Schwingen, die in der Dunkelheit silberblau schimmerten. Sie fragte sich, ob Illium seiner menschlichen Geliebten immer noch nachtrauerte. Aber sie hatte wohl kein Recht, ihn danach zu fragen. »Und der Vampir, weiß man, wer er ist?«
»Er heißt Noel. Bislang hat er das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt.« Seine Stimme war schneidend. »Er ist einer von uns.«
Und sie wusste, dass sie nicht eher ruhen würden, bis sie den Angreifer aufgespürt hatten. Die Jägerin in ihr konnte ihnen nur beipflichten. »Wie steht es mit diesem Engel, der dem Kader beitreten will?« Auf einen weiteren Erzengel mit einem Hang zu bösartigen Vergnügungen konnte die Welt sehr gut verzichten.
»Zweitrangig.« Eine simple Feststellung. »Der bekommt seine Strafe noch früh genug. Er hat Noel verletzt und Raphael beleidigt, dafür richten wir ihn hin.«
Auch Elena war dafür, das Übel bei der Wurzel zu packen, doch tat sie sich mit der rasanten Rechtsprechung der Engel sehr schwer. »Wahrscheinlich habt ihr keine Richter und Geschworenen.«
Illium war empört. »Du hast Uram doch erlebt – hättest du ihn auch nur einen Tag vor Gericht haben wollen?«
Nein. In ihrem Kopf überschlugen sich die Erinnerungen an Urams Gräueltaten, und deshalb sagte sie schnell: »Erzähl mir etwas über Erotique.«
Überrascht zog Illium eine Braue in die Höhe, als sie den Namen dieses exklusiven Manhattaner Clubs nannte, den vor allem Vampire frequentierten. »Willst du den Beruf wechseln?«
»Geraldine hat dort als Tänzerin gearbeitet.« Nie würde Elena den flehenden Blick dieser Frau vergessen, die sterbend in ihren Armen lag, nachdem Uram ihr die Kehle aufgeschlitzt hatte. »Sie wollte so gerne verwandelt werden.«
»Ich weiß gar nicht, ob ihr die Unsterblichkeit gefallen hätte.« Illium schwang die Beine über die Brüstung, ging über den Balkon und blieb mit der Schulter an den Türrahmen gelehnt stehen. »Geraldine kam mir vor wie ein typisches Opfer.«
Elena erinnerte sich an die bleiche, blasse Haut, die in Vampirduft gehüllt war. Die meisten hätten sie wohl Vampirliebchen oder Flittchen genannt, und damals hätte Elena ihnen zugestimmt – doch dann hatte sie in einem Raum voller Vampire und ihrer Geliebten gestanden und erst da begriffen, dass, wenngleich Verführung eine Droge sein konnte, es doch immerhin ein Tauschhandel zwischen zwei erwachsenen Wesen war, ein Spiel, bei dem der Sieger dem Verlierer eine ganze Nacht lang Vergnügen bereiten würde.
Aber Geraldine war nicht so wie die Männer und Frauen im Turm gewesen, die leichtfertig mit ihrer Sinnlichkeit kokettiert hatten. Sie war ein Opfer. »Und sie wäre es für immer geblieben.«
»Ja.« Illium sah sie an, seine Flügel bildeten einen zarten Bogen auf seinem Rücken. »Glaube mir, Ellie. Das ist kein Vergnügen.«
»Das klingt so, als wüsstest du genau, wovon du sprichst«, sagte sie. Nie würde sie die stumme Verzweiflung vergessen, die Geraldines letzte Bitte begleitet hatte. »Du bist doch kein Opfer.«
»Einmal habe ich einen Menschen verwandelt«, murmelte er, seine Augen unter langen Wimpern verbergend. »Die biologische Verträglichkeit, die Persönlichkeitstests, alles stimmte. Aber er hatte kein … Rückgrat, kein Gefühl für sich selbst. Doch das habe ich erst viel später erfahren, als es schon zu spät war. Zu der Zeit hatte er sich schon einem anderen Engel verschrieben, der es genoss, ein Opfer um sich zu haben.«
»Ist er tot?«
»Natürlich. Opfer leben nie lange.«
Ein unsentimentaler Blick auf die dunkleren Seiten der Unsterblichkeit. »Je länger man lebt, desto mehr Fehler macht man.«
»Und umso mehr Trauer trägt man mit sich herum.«
Vielleicht hätte sie diese düstere Bemerkung überraschen sollen, doch langsam, aber sicher lernte sie, dass Illium der Welt nur selten sein wahres Gesicht zeigte. Genau wie der Mann, den er Sire nannte. »Kannst du dich an alles erinnern?«
»Ja.«
Eine Gabe. Ein Fluch.
Nur zu schmerzlich war ihr bewusst, dass Erinnerungen eben solche tiefen Wunden hinterlassen konnten wie scharfe Messerklingen,
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