Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
ein wie andere Schusswaffen. Und wenn Männer, Sterbliche wie Unsterbliche, ihrer Schönheit erlagen und dafür ihr Leben lassen mussten, dann war das eben ihre eigene Schuld.
»Deine Jägerin hat also überlebt«, schnurrte sie jetzt, eine Schicht Honig überzog das Gift in ihrer Stimme. Als Raphael daraufhin nichts sagte, schob sie enttäuscht die Unterlippe vor. »Warum machst du ein Geheimnis daraus?«
»Ich wusste nicht, dass du an Elenas Überleben sonderlich interessiert bist.« Nur an ihrem Tod.
Zumindest musste man Michaela zugutehalten, dass sie jetzt nicht so tat, als wüsste sie nicht, wovon er sprach. »Eins zu null für dich.« Sie hob das Weinglas auf sein Wohl und trank einen winzigen Schluck von der goldenen Flüssigkeit. »Wenn ich sie töten würde, wärst du dann sehr böse?«
Raphael blickte in diese sprühenden giftgrünen Augen und fragte sich, ob Uram denn nie bis in das tückische Herz dieser Frau, die seine Gemahlin gewesen war, gesehen hatte. »Meine Jägerin scheint einen ungewöhnlichen Reiz auf dich auszuüben.« Die Worte waren mit Bedacht gewählt. Elena gehörte ihm, und er würde sie beschützen.
Michaela winkte ab. »Vielleicht wäre sie eine ganz nette Beute, aber jetzt, da sie ihre Fähigkeiten verloren hat, wäre der Spaß allzu schnell vorbei. Wahrscheinlich sollte ich sie einfach in Ruhe lassen.«
Aalglatt und berechnend war dieses Angebot. »Ich glaube«, sagte er, ohne ihre falschen Schlüsse zu korrigieren, »Elena kann ganz gut auf sich selbst aufpassen.«
Michaelas Wangenknochen traten deutlich unter ihrer Haut hervor – einer Haut, für die Männer schon gestorben waren. »Du hältst uns doch nicht etwa für ebenbürtig?«
»Nein.« Ruhig wartete er ab, sah, wie sich ein zufriedener und selbstgefälliger Ausdruck auf ihrem Gesicht breitmachte. »Elena ist etwas ganz Besonderes.«
Einen winzigen eisigen Moment lang fiel die Maske. »Sei vorsichtig, Raphael.« Und er blickte in die Augen eines Raubtieres, das sich, während sich sein Opfer noch in Todesqualen am Boden windet, schon sorgfältig das Blut von den Pfoten leckt. »Ich werde meine Krallen nicht einziehen, nur weil sie dein Liebling ist.«
»Dann werde ich Elena bitten, ihre auch nicht einzuziehen.« Er nahm einen Schluck Wein und lehnte sich zurück. »Wirst du zu dem Ball gehen?«
Im Nu verbarg sich Michaela wieder hinter ihrer tadellosen und perfekten Maske. »Natürlich.« Mit der Hand fuhr sie sich durchs Haar, dabei drängten sich ihre Brüste gegen den olivfarbenen Stoff ihres Kleides, das gerade offenherzig genug war, um die meisten Männer in den Wahnsinn zu treiben. »Bist du jemals in Lijuans Festung gewesen?«
»Nein.« Der älteste Erzengel lebte in einer Bergfestung, die irgendwo ganz im Verborgenen in dem riesigen Reich Chinas lag. »Ich glaube, vom ganzen Kader ist noch nie einer dort gewesen.« Doch Raphael war es im Laufe der Jahrhunderte gelungen, seine Männer heimlich dort einzuschleusen. Im Moment oblag diese Aufgabe Jason, und jedes Mal kehrte Raphaels Meisterspion mit neuen und noch beunruhigenderen Berichten von Lijuans Hof heim.
Michaela schwenkte ihr Glas. »Uram war einmal in jungen Jahren dort eingeladen«, erzählte sie ihm. »Lijuan fand Gefallen an ihm.«
»Ob Uram das für ein Kompliment gehalten hat, weiß ich ja nicht.«
Ein sanftes, einladendes Lachen. »Sie ist … wenig menschlich, nicht wahr?« Wenn das sogar ein Kadermitglied sagte, sprach das Bände über das Ausmaß von Lijuans »Entwicklung«.
»Was hat Uram dir über ihre Festung erzählt?«
»Dass sie unbezwingbar sei und mit unzähligen Schätzen gefüllt.« Ihre Augen funkelten, ob dies nun den Kostbarkeiten in Lijuans Palast galt oder Erinnerungen an ihren Liebhaber, vermochte Raphael nicht zu sagen. »Er hat gesagt, noch nie zuvor habe er solche Kunstwerke, Wandteppiche und Juwelen gesehen. Ich konnte ihm gar nicht so recht glauben. Hast du schon mal gesehen, dass Lijuan auch nur einen Diamanten trägt?«
»Das braucht sie gar nicht.« Mit ihren reinweißen Haaren und seltsamen perlmuttgrauen Augen, einer Farbe, die Raphael sonst noch nirgendwo gesehen hatte, war Lijuans Erscheinung auch ohne schmückendes Beiwerk unvergesslich. Im Augenblick war ihr Augenmerk ganz auf eine Welt gerichtet, die sich die anderen nicht einmal vorzustellen vermochten. Im letzten halben Jahr hatte sie ihre Festung nicht mehr verlassen, nicht einmal, um sich mit den anderen Erzengeln zu treffen. Umso ungewöhnlicher war
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