Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
Michaela durchschaute und das Böse hinter der glänzenden Fassade sah.
Aber es war nicht so leicht, das atemberaubend schöne Gesicht und diesen Körper zu vergessen, mit dem der weibliche Erzengel schon Könige verführt und Reiche zerstört hatte. Im Vergleich dazu war Elenas eigenes Gesicht, das ihr im Spiegel entgegenblickte, durch das Jahr, das sie im Bett hatte verbringen müssen, viel zu schmal und blass. Im Moment strotzte sie jedenfalls nicht gerade vor Selbstvertrauen. »Schluss damit.« Sie legte das Handtuch beiseite und trat aus dem Badezimmer.
Das Schlafzimmer wirkte verlassen, dennoch hatte sie keinen Zweifel, dass sich Illium irgendwo in der Nähe aufhielt. Sie trat auf den großen Balkon hinaus und begann mit ihren Dehnübungen, die sie auf der Akademie der Gilde gelernt hatte. Mit den meisten Übungen hatte sie keine Probleme, nur ein paar erforderten ein klein wenig kreatives Umdenken, da sie jetzt ja ihre Flügel mitberücksichtigen musste. Ein paarmal verlor sie das Gleichgewicht, bis sie sich dazu zwang, immer wieder bewusst die Flügel oben zu lassen. Es war fast so ein Gefühl, als wenn sie beim Tippen versucht hätte, die ganze Zeit die Arme ausgestreckt zu halten: ein leichtes Brennen, das sich langsam zu einem immer stärker werdenden Schmerz auswuchs.
Mit sturer Entschlossenheit wollte sie diese Schmerzgrenze durchbrechen, aber dann fiel ihr wieder ein, in welchem Zustand sie noch am Nachmittag gewesen war, und gönnte sich eine Pause. Sie schleppte sich zurück ins Schlafzimmer und von dort weiter in das Wohnzimmer, wo sie gierig ein Glas Orangensaft hinunterstürzte. Frisch und herb schmeckte er, ein Zeichen dafür, dass hier irgendwo in dieser mittelalterlich anmutenden Stadt in den Bergen ein Orangenhain lag.
»Da ist ein Anruf für dich.«
Als sie sich erstaunt umdrehte, stand Illium vor ihr und hielt ihr einen schnittigen silbernen Telefonhörer hin. So viel also zum Thema Mittelalter. »Ich habe es gar nicht läuten gehört.«
»Ich hatte den Klingelton abgeschaltet, als du vorhin ein Nickerchen gemacht hast.« Er übergab ihr den Hörer und nahm sich gleichzeitig einen Apfel aus der Obstschale. »Ransom ist dran.«
Von Illiums vertraulichem Ton überrascht, hielt sie sich den Hörer ans Ohr. »Na, mein Hübscher.«
Sie konnte das Lächeln des Jägers förmlich hören, als er ihr antwortete. »Und, kannst du schon fliegen?«
»Bald.«
»Du hast in letzter Zeit aber einen interessanten Umgang.«
Elena schaute Illium hinterher, der gerade auf den kleinen Balkon des Zimmers hinaustrat. »Wo hast du ihn kennengelernt?«
»Im Erotique.«
»Kennst du ein paar der Tänzerinnen dort?« Ransom war auf der Straße groß geworden und hielt seine Beziehungen nach wie vor aufrecht.
»Ein paar. Ich bekomme da immer gute Informationen. Wenn sie einen geblasen kriegen, werden selbst die mächtigsten Vampire geschwätzig.«
Das überraschte Elena keineswegs, schließlich waren auch Vampire einmal Menschen gewesen. Und die menschliche Vergangenheit wirkte noch lange nach. »Was haben sie denn ausgeplaudert?«
In der Leitung knisterte es. »… willst du wissen.«
»Was?« Sie presste sich den Hörer dicht ans Ohr.
»Es heißt, dass du noch am Leben bist. Alle glauben, du seiest jetzt ein Blutsauger – soweit ich weiß, hat keiner von denen, die Bescheid wissen, etwas ausgeplaudert.«
»Gut.« Zunächst einmal musste sich Elena selbst in ihrer neuen Welt zurechtfinden, bevor sie sie anderen erklären konnte. »Hast du deshalb angerufen?«
»Nein. Eine der Tänzerinnen hat gehört, dass die Vampire Wetten auf dich abschließen, ob du dieses Jahr überlebst.«
»Wie stehen die Chancen?«
»99 zu 1.«
Elena brauchte erst gar nicht zu fragen, welches die Gewinnerseite war. »Was wissen die, was ich nicht weiß?«
»Es geht das Gerücht um, dass Lijuan ihre Gäste gerne an ihre Lieblinge verfüttert.«
6
Raphael beobachtete, mit welcher Anmut Michaela ihr Weinglas an die Lippen hob – die Anmut einer Frau, die Jahrzehnte Zeit gehabt hatte, ihre Eleganz zu perfektionieren. Objektiv betrachtet war Michaela schön, vielleicht sogar die schönste Frau der Welt. Ihre Haut war makellos und hatte einen erlesenen Ton aus Kaffee und Sahne, das Grün ihrer Augen stellte selbst Edelsteine in den Schatten, und ihr Gesicht umgab eine Flut schwarzen Haars, durchwirkt mit Kupfer und Braun in allen Schattierungen.
Atemberaubend – und sie setzte dieses Aussehen so wirkungsvoll und ungerührt
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