Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
Hoffnungen derer zu nähren, die nach Macht strebten, ohne dass sie wussten, wie hoch der Preis war, den sie dafür würden zahlen müssen. »Jemand, der stark genug ist, andere zu verführen.«
»Da ist noch etwas«, sagte Dmitri, Raphael hatte ihm bereits den Rücken zugewandt, war schon auf dem Weg zurück zu Elena. »Michaela« – er nannte den Namen eines weiteren Mitglieds des Kaders der Zehn – »hat eine Nachricht geschickt, dass sie in Kürze in der Zufluchtsstätte eintreffen wird.«
»Da hat sie sich aber mehr Zeit gelassen, als ich angenommen hatte.« Michaela und Elena waren wie Öl und Feuer. Der weibliche Engel musste immer im Mittelpunkt stehen. Und als dann Elena plötzlich in ihrer derben Jägerkluft und mit ihren hellen Haaren in das Leben der Engel getreten war, hatte sich das Kräftegleichgewicht auf sehr subtile Weise verschoben. Elena hatte davon wahrscheinlich gar nichts gemerkt, doch war das genau der Grund, warum Michaela sie vom ersten Tag an mit gehässiger Feindseligkeit verfolgte.
»Ob nun im Kampf gegen Michaela oder diese Bestie, sie« – Dmitri warf einen Blick auf die verschlossene Tür hinter Raphael – »ist noch zu schwach, um sich zu verteidigen. Es wäre ein Leichtes, sie umzubringen.«
»Illium und Jason sind hier. Wie sieht es mit Naasir aus?« Nur einem seiner Sieben würde er Elenas Leben anvertrauen.
»Ist auf dem Weg hierher.« Als Raphaels Sicherheitschef wusste Dmitri jederzeit, wer wann wo war. »Ich werde dafür sorgen, dass sie nie alleine ist.«
Raphael las zwischen den Zeilen. »Und ist sie auch bei dir sicher?«
Jetzt veränderte sich der Gesichtsausdruck des Vampirs. »Sie schwächt dich.«
»Sie ist mein Leben. Beschütze Elena, wie du sie schon einmal beschützt hast.«
»Wenn ich geahnt hätte, welche Folgen das haben … zu spät.« Als Dmitri kurz mit dem Kopf nickte, wusste Raphael, dass seine Sieben sich nicht gegen Elena stellen würden. Mancher Erzengel hätte Dmitri womöglich getötet, weil er sich angemaßt hatte, gegen Raphael aufzubegehren, aber bei ihm machte er eine Ausnahme.
Denn mehr und mehr hatte Raphael begriffen, was Dmitri und seine Sieben für ihn getan hatten. Ohne sie wäre er vielleicht schon lange vor Elenas Geburt zu einem zweiten Uram oder einer zweiten Lijuan geworden. »Teile Illium für die meisten Wachen ein, ihm widersetzt sich Elena nicht so leicht.«
Dmitri schnaubte ärgerlich. »Elenas heiß geliebtes Glockenblümchen wird sich noch in sie verlieben, und dann musst du ihn töten.«
»Ich kann mir keinen besseren Wächter für Elena vorstellen als einen, der sie liebt.« Solange er nicht vergaß, dass er die Gefährtin eines Erzengels beschützte. Bei Verrat kannte er kein Pardon. »Wann kommt Michaela an?«
»In ungefähr einer Stunde. Sie hat zum Abendessen geladen.«
»Nimm an.« Besser man behielt den Feind im Blick.
Als Elena aus ihrem angenehm traumlosen Schlaf erwachte, wusste sie sofort, dass sie nicht alleine war. Und es war nicht der frische, klare Duft von Regen und Wind, den sie wahrnahm. Dennoch sah sie keine Veranlassung, ihre Schutzschilde zu aktivieren. Elena streckte sich, und durch die offenen Balkontüren erblickte sie Illium, der lässig mit ausgebreiteten Flügeln auf der Brüstung saß und die Beine über den steil abfallenden Felsen baumeln ließ.
Gegen den sternenhellen Nachthimmel nahm sich seine Silhouette aus, als sei er einer Legende oder einem Mythos entsprungen. Doch wie sie heute Nachmittag mit eigenen Augen hatte sehen können, war dieser Ort nicht nur märchenhaft, sondern auch dunkel und blutrünstig. »Pass bloß auf, sonst fällst du noch hinunter.«
Er drehte sich zu ihr um. »Setz dich doch zu mir.«
»Nein, danke. Meine Knochen sind gerade erst geheilt.« Sie hatte sich bei ihrem Sturz in New York so gut wie jeden Knochen gebrochen. Aber seltsamerweise hatte sie keine Schmerzen verspürt. Nur an ein Gefühl des Friedens konnte sie sich erinnern.
Und dann hatte Raphael sie geküsst.
Ihr Erzengel hatte sie den Klauen des Todes entrissen, hatte sie sicher in seinen Armen gehalten, während sich ihr Mund mit dem köstlich goldenen und unvergleichlich erotischen Ambrosia gefüllt hatte.
»Wie du guckst«, sagte Illium. »Einst hatte ich eine Frau, die mich genauso angesehen hat.«
Elena wusste, dass Illium seine Federn verloren hatte, weil er einer Sterblichen himmlische Geheimnisse anvertraut hatte – einer Sterblichen, die er geliebt hatte. »Hast du sie denn auch
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