Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
die kein Sterblicher ahnte.
»Sie können sich bewegen, aber nicht sprechen. Jason hat mir berichtet, dass sie in den ersten Monaten ihres neuen Daseins eine Art Seele haben, dass es also möglich ist, dass sie wissen, was sie sind – aber ohne die geringste Macht über ihren wiedergeborenen Körper zu besitzen. Sie sind Lijuans Marionetten.«
»Oh mein Gott.« Gefangen in seinem eigenen Körper zu sein und zu wissen, dass man ein lebendiger Albtraum war … »Wie erhält Lijuan sie denn am Leben?«
»Sie erweckt sie mit ihrer eigenen Kraft zum Leben, aber dann brauchen sie Blut.« Raphaels Worte erfüllten sie mit Angst, mit Entsetzen. »Die Alten, die schon vor langer Zeit ihr Leben ausgehaucht haben, ernähren sich von den erst kürzlich Verstorbenen, um ihre Knochen wieder in Haut zu kleiden.«
Ihr wurde kalt, eiskalt. »Wirst auch du diese Fähigkeit erlangen?«
7
Noch einmal fuhr ihr Raphael beruhigend über das Haar. »Unsere Fähigkeiten sind fest mit unserem Wesen verbunden. Ich hoffe deshalb sehr, dass ich niemals imstande sein werde, Tote zu erwecken.«
Zitternd schlang sie die Arme um ihn. »Hast du in den letzten Jahren irgendwelche neuen Fähigkeiten erlangt?« Denn sie kannte ihn, wusste, wie schmal der Grat war, auf dem er sich bewegte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er einmal einem Vampir sämtliche Knochen gebrochen, während die armselige Kreatur noch bei vollem Bewusstsein war. An diese Strafaktion würde sich Manhattan für alle Zeiten erinnern. »Raphael?«
»Komm.« Er erhob sich in die Lüfte.
Mit einem kleinen Aufschrei klammerte sie sich fest an seinen Hals. »Du hättest mich ruhig warnen können.«
»Ich habe volles Vertrauen in deine Reflexe, Elena.« Immerhin, hättest du Uram nicht erschossen, würde New York vielleicht immer noch in einem Meer von Blut schwimmen.
Sie schnaubte. »Das war ja wohl nicht nur ich allein. Ich meine mich dunkel zu erinnern, dass du ihn mit Feuerbällen beschossen hast.«
»Himmlisches Feuer«, grummelte er. »Hätte es dich berührt, wärst du auf der Stelle tot gewesen.«
Sie kuschelte sich an seine Brust, während er über die gewaltige Bergkette flog, die sich gefährlich schön um die Lichter der Zufluchtsstätte schloss. »So leicht passiert das nicht.«
»Sieh dich vor, Jägerin.« Mit großer Geschwindigkeit näherte er sich im Sinkflug den herabstürzenden Fluten eines Wasserfalls. »Du kannst immer noch verletzt werden.«
Sie waren dem Wasser so nah, dass sie mit der Hand durch das glitzernde Nass hätte fahren können. Wie in Mondlicht gegossene Diamanten strahlten die Tropfen. Ein Gefühl von Verwunderung erfüllte sie. »Oh Raphael!«
Er stieg wieder zum kühlen Nachthimmel empor, kristallklar standen die Sterne am Firmament.
»Du hast gesagt, ein starker Vampir könnte mich töten«, sagte sie; sie spürte, wie sich ihre Wangen von der Kälte rot gefärbt hatten und der Wind ihr das Haar zauste. »Himmlisches Feuer kann es bestimmt auch. Was kann mir noch gefährlich werden?«
»Himmlisches Feuer wäre wohl die einfachste Möglichkeit, aber Erzengel, die das nicht beherrschen, haben noch andere Mittel zur Verfügung.«
»Mit dem Kader wollte ich sowieso nicht meine Freizeit verbringen, also trifft sich das schon mal gut.«
Raphaels Lippen pressten sich an ihr Ohr, die Berührung sandte heiße Wellen bis in die Zehen hinab, doch seine Worte … »Krankheiten können dir nichts mehr anhaben, aber andere Engel können dich ebenfalls töten. Du bist so jung, dass du sterben würdest, wenn man dich zerstückeln würde.«
Bei der Vorstellung einer solchen Tat wurde ihr schlecht. »Geschieht das häufig?«
»Nein. Meistens wird der Kopf abgetrennt und anschließend verbrannt. Nur wenige überleben das.«
»Wie kann das überhaupt jemand überleben?«
»Engel sind nahezu unverwüstlich«, murmelte er und verlangsamte seinen Flug, um sie wieder zurück zur Erde zu bringen.
»Dieser Ort ist riesig«, sagte sie, erhaschte einen flüchtigen Blick auf Lichter in weiter Ferne. »Wie kann es sein, dass niemand von seiner Existenz weiß?«
Raphael antwortete erst, als sie auf dem Balkon vor ihrem Schlafzimmer gelandet waren. »Die Unsterblichen mögen in vielerlei Hinsicht sehr unterschiedlicher Meinung sein, aber bei unserer Zufluchtsstätte sind wir uns alle einig – nie dürfen Sterbliche von ihrer Existenz erfahren.«
»Sara?« Sie packte ihn am Oberarm. »Hast du etwas mit ihrem Gedächtnis gemacht?«
»Nein.« Gnadenlos
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