Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
erwartet?«
»Den Menschen zufolge sind wir die Boten ihrer Götter.«
Raphael sah Elias an. »Nach Lijuan bist du der Älteste unter uns. In ihrem Reich ist sie fast schon eine Göttin. Hast du dir jemals überlegt, den Rang eines Gottes für dich in Anspruch zu nehmen?«
»Ich habe mit ansehen müssen, was mit denen geschehen ist, die diesen Weg eingeschlagen haben.« Elias hatte den Blick abgewendet, aber die Bedeutung seiner Worte war unmissverständlich. »Aber selbst wenn ich es nicht erlebt hätte, so habe ich doch Hannah. Meine Gefühle für sie sind viel zu real, viel zu sehr von dieser Welt.«
Raphael dachte an die starke und fast erhabene Liebe seiner Eltern und verglich sie mit seinen Gefühlen für Elena. Wenn er sie auch nur berührte, pulsierte die Lust in ihm, sein Geschlecht wurde schmerzhaft hart, daran war wirklich nichts Erhabenes. »Titus und Charisemnon werden Hunderte niedermetzeln«, sagte er schließlich, »aber Lijuan bleibt weiterhin die wahre Bedrohung.«
»Meine Späher berichten mir, dass sich ihre Armee der Wiedergeborenen in den letzten sechs Monaten verdoppelt hat.« Und es ging das schreckliche Gerücht um, dass einige ihrer Soldaten Frischverstorbene waren – als seien sie geopfert worden, damit Lijuan noch mehr Macht in ihren kalten Händen hielt. »Wenn sie die auf die Welt loslässt, steht uns ein dunkles Zeitalter bevor.«
Im letzten dunklen Zeitalter waren jahrtausendealte Zivilisationen zerstört worden, prachtvolle Bauten und Kunstwerke, wie sie die Welt nie wieder schmücken würden, dem Erdboden gleichgemacht. Abermillionen Menschen waren umgekommen – Nebeneffekt eines Krieges unter Engeln.
Doch damals hatten sie nicht gegen Heere von Toten kämpfen müssen, die sich von Lebenden nährten.
Elena sah zu, wie Jessamy ein Kind nach dem anderen in Sams Zimmer geleitete. Keir hatte den Jungen in einen halb wachen Zustand versetzt, in dem er zwar verstand, was um ihn herum geschah, aber keine Schmerzen hatte. Sam strahlte vor Freude über die mitgebrachten Geschenke seiner Klassenkameraden, und in Elena machten sich Glücksgefühle und Wut gleichermaßen breit.
Wie verderbt musste man sein, um dieses unschuldige Kind zu verletzen.
Tropf.
Tropf.
Tropf.
»Siehst du, es gefällt ihr.«
Ein heftiger Schmerz durchfuhr sie, und sie mühte sich vergeblich ab, in die Gegenwart zurückzugelangen. Nun war sie auch am helllichten Tag vor ihren Albträumen nicht mehr sicher. Sie sah Aris Gesicht vor sich, wie der Glanz in ihren türkisblauen Augen immer stumpfer wurde, während Slater seinen grässlichen Durst stillte. »Lauf weg!«, hatte Ari ihr zugeraunt, selbst war sie dazu nicht mehr imstande gewesen, ihre Beine waren nicht wie die von Belle einfach gebrochen, sondern herausgerissen worden, eine barbarische Amputation.
Wie Holzstecken.
So hatten die Knochen ausgesehen, die aus Aris Oberschenkeln herausstachen. Sobald das Blut mit der Luft in Berührung kam, gerann es.
»Sie wird nicht weglaufen.« Kichern. »Siehst du, es gefällt ihr.«
»Würden Sie ihn gerne begrüßen?«
Elena fuhr herum und starrte der bestürzten Jessamy ins Gesicht, ohne sie jedoch wirklich wahrzunehmen, denn in Gedanken war Elena immer noch in dieser Küche, gefangen in einem Leid, das sie bis in alle Ewigkeit verfolgen würde.
Zögernd berührte Jessamy sie mit der Hand. »Elena?«
»Ja«, sagte sie, zwang die Worte vorbei an ihren brutalen Erinnerungen. »Ja, ich würde Sam sehr gerne sehen.«
»Gehen Sie ruhig zu ihm.« Jessamy sah besorgt aus, sagte aber nichts. »Ich bringe die Kinder wieder zurück in die Schule.«
Von irgendwoher kramte Elena ein Lächeln hervor, blendete dann alles andere aus und trat zu Sam ins Zimmer. »So, so«, sagte sie, »das ist also deine Methode, den Aufsätzen von Jessamy zu entgehen.«
Ein Leuchten trat in Sams Augen, Augen, die beinahe ihr Strahlen für immer verloren hätten. Keir zufolge konnte Sam sich an seine Entführung nicht erinnern – wahrscheinlich lag das an der Kopfverletzung. Vermutlich würden seine Erinnerungen aber im Laufe der Zeit zurückkehren, und deshalb hatten die Heiler und seine Eltern beschlossen, ihn behutsam darauf vorzubereiten. Doch erst in einer Weile, wenn es ihm besser ging und er stark genug war, die schrecklichen Geschehnisse jener Nacht zu verarbeiten.
»Nein«, krächzte Sam. »Sie hat gesagt, ich muss alles nachholen.«
»Das sieht ihr ähnlich«, sagte Elena leise, dann deutete sie auf die Geschenke. »Du
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