Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
Mutter.
23
In diesem Moment wurde Elena klar, dass der Erzengel von New York ihr etwas anvertraut hatte, was er sonst niemandem anvertrauen würde. Woher sie diese Gewissheit hatte, konnte sie nicht sagen. Sie wusste es einfach. Und sie wusste auch, dass es keine Antwort auf Raphaels Fragen gab. Nur die Zeit konnte die Fragen beantworten, jedoch … »Dein Leben hat eine Wendung genommen, die bestimmt nicht einmal Lijuan hätte erahnen können. Nichts im Leben ist vorherbestimmt.«
Raphael schwieg lange Zeit, und während die nächtlichen Winde mit unheimlichen Tönen über ihre Körper und ihre Flügel strichen, standen sie einfach nur schweigend da. Ihr Erzengel hatte sich nicht die Mühe gemacht, ein neues Hemd anzuziehen. Seine Haut fühlte sich ganz wundervoll an. Trotz der alarmierenden Vorfälle des Tages war sie von einer seltsamen Zufriedenheit erfüllt.
»Es ist eine ruhige Nacht«, sagte Raphael endlich, »die Winde lau. Gute Sicht in alle Himmelsrichtungen.«
»Eine gute Nacht zum Fliegen«, flüsterte sie.
»Ja.«
Als er sich in die Lüfte schwang, hielt sie sich gut an ihm fest, wechselte dann den Griff und umschlang seinen Nacken. Der Wind hatte ihr das Haar erst aus dem Gesicht geblasen, nun aber peitschte er es zurück und wickelte es um sie beide. »Ich muss es unbedingt einmal schneiden«, murmelte sie und zog sich mit der einen Hand Strähnen aus dem Mund, während sie die andere fest um Raphael geschlungen hielt.
Selbst als Jägerin hast du es nie getan? War es denn nicht gefährlich, sie so lang zu tragen?
Auch wenn es ihr schwerfiel, darüber zu sprechen, antwortete sie ihm. Mein Haar ist wie das meiner Mutter und erinnert mich immer an sie. Ich bin das einzige ihrer vier Kinder, das seine weiße Haarfarbe behalten hat. Ari und Belle waren wie Jeffrey beide goldblond geworden, während bei Beth die Großmutter väterlicherseits durchgekommen war und ihr Haar ein wunderschönes Rotblond hatte.
Also sind wir beide Abbilder unserer Mütter.
Was ihr lieb und teuer war, musste ihm wie ein Fluch vorkommen. Tröstend strich sie ihm mit den Lippen über das Gesicht. »Schneller.«
Ohne Vorwarnung stieß Raphael hinab und schoss wieder empor, sie schlang ihre Beine um ihn und lachte vor Vergnügen. Dabei hatte sie unwillkürlich ihre Flügel ausgestreckt, und erst jetzt, als der Wind hineinfuhr, bemerkte sie es. »Raphael!«
»Schließ sie«, sagte er. »Sonst werden wir ziemlich hart landen.«
Nach kurzer Überlegung zog sie die Flügel wieder ein – da sie gegen den Widerstand des Windes angehen musste, verspürte sie ein leichtes, aber harmloses Ziehen in den Muskeln. »Sie wollen sich wieder öffnen.«
»Instinkt.« Er flog sie tiefer, breitete seine Flügel voll aus und landete sanft und sicher auf einer kleinen Bergkuppe mit Blick auf ein flaches, schneebedecktes Tal.
»Die Landschaft sieht hier ganz anders aus.« Das Tal mit seinen sanften Ausläufern wirkte eher harmlos als bedrohlich.
»Der Schnee hier verharscht selten, er ist wunderbar weich«, sagte Raphael. »Deshalb eignet sich der Ort gut für ein Flugtraining.«
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Jetzt sofort?« Sie hatte gedacht, sie sollte nur in seinen Armen fliegen.
»Jetzt sofort.«
Aufgeregt lief sie bis zum Rand des Abhangs vor und sah hinab.
Und hinab.
Mit Höhenangst hatte sie eigentlich nie zu tun gehabt, aber … »Auf einmal sieht alles viel weiter weg aus, jetzt, da ich weiß, dass ich darauf zufliege.«
»Hast du Angst?« Seine Flügel strichen über ihre, und aus den Augenwinkeln sah sie es golden schimmern.
Ihre Mundwinkel zuckten. »Bestäubst du mich, Erzengel?«
»Es sieht wunderschön aus, wenn sich der Engelsstaub im Dunkeln von den Flügeln löst.« Er gab ihr einen Kuss und stellte sich schützend hinter sie, der Engelsstaub wirkte wie ein Aphrodisiakum, gab ihr einen Vorgeschmack auf reinen, unverfälschten Sex. »Beim Fliegen dringt es in deine Haut und macht deinen Körper bereit für mich.«
»Nichts als leere Worte«, murmelte sie, spürte, wie sich seine Hände fest um ihre Taille legten. »Also, was soll ich machen?«
»Die einzige Möglichkeit, fliegen zu erlernen, ist zu fliegen.« Und damit gab er ihr einen sanften Stoß.
Angst überkam sie und überdeckte alles, bis auf den Überlebenstrieb. Sie breitete die Flügel aus, um den Fall zu bremsen, ihre Muskeln schrien schmerzerfüllt auf. Raphaels Hemd wickelte sich um sie, ihr Bauch war entblößt. Doch das kümmerte sie
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