Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
mit weißem Gold. Vor lauter Anstrengung zitterte sie immer noch, als sie den Spülknopf schließlich drückte und sich auf dem Boden zusammenkauerte.
Raphael brachte ihr einen kalten nassen Waschlappen. Sie rieb sich damit über das Gesicht. Raphael stand vor ihr, und es war unübersehbar, dass er vor Wut schäumte. »Was«, fragte er mit frostiger Stimme, so hatte sie ihn schon einmal mit Michaela reden gehört, »hat es mit dieser Kette auf sich?«
»Es muss eine Nachbildung sein«, würgte sie hervor. »Die echte haben wir begraben. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.« Ein letzter Blick auf Belle, bevor sich der Sargdeckel schloss.
Raphael nahm ihr Gesicht in die Hände, legte seine wunderschönen Flügel um sie. »Gib ihr keine Macht. Lass nicht zu, dass sie deine Erinnerungen gegen dich verwendet.«
»Dieses verdammte Miststück.« Blinde Wut stieg in ihr hoch. »Das hat sie doch mit Absicht getan, nicht wahr?« Eigentlich war das keine Frage, denn die Antwort lag auf der Hand. »Ich stelle doch gar keine Bedrohung dar, sie macht sich einen Spaß daraus. Will mich zerbrechen.« Und einzig, um sich für kurze Zeit zu amüsieren.
»Offenbar hat sie keine Ahnung, wer du bist.« Er zog sie hoch. Elena ging zum Waschbecken und legte den Waschlappen auf die Ablage, dann spülte sie sich den Mund mit fast kochend heißem Wasser aus. »Belle«, sagte sie schließlich, nachdem sie sich einigermaßen sauber fühlte, »wäre Lijuan dafür an die Kehle gegangen. Wie kann sie es wagen, den Tod meiner Schwester gegen mich zu benutzen?« Bei der Erinnerung an das süße und ungestüme Wesen ihrer Schwester richtete sie sich wieder auf. »Also machen wir weiter.«
Auch wenn sie sich nach wie vor weigerte, die Kette anzufassen, betrachtete sie Lijuans Geschenk diesmal eingehend. »Es ist eine Reproduktion.« Vor Erleichterung atmete sie auf, sie hatte sich am Schreibtisch festgehalten, denn sonst wären ihr die Beine weggesackt. Der chinesische Erzengel hatte Belles letzten Ruheort nicht geschändet. »Einmal wollten wir Belles Namen mit einem heißen Draht hinten eingravieren. Aber wir kamen nur bis zu einem zitterigen B, da hatte Mama uns schon erwischt.« Bei dieser Erinnerung musste sie unwillkürlich lächeln, alles Böse und Hässliche war wie fortgeblasen. »Sie war so sauer – der Anhänger war immerhin aus neunkarätigem Gold.«
Raphael legte die Kette in die Schachtel zurück und schloss den Deckel. »Um die Entsorgung kümmere ich mich.«
»Ja tu das … aber lass vorher noch ein Duplikat anfertigen.« Grimmig lächelte sie und entblößte dabei ihre Zähne. »Das Miststück will Spielchen mit uns treiben. Schön. Spielen wir mit.«
»Ihre Späher werden ihr Bericht erstatten«, sagte Raphael. »Es ist ein geschickter Zug, aber ich werde es nicht zulassen.«
Jäh warf sie den Kopf herum. »Was?«
»Sie wollte dir mit Absicht wehtun. Wenn du den Anhänger trägst, dann erinnert er dich nur an die Vergangenheit.«
»Ja«, sagte sie. »Die Kette wird mich daran erinnern, wie Belle den Schlägertyp aus unserer Nachbarschaft verprügelt hat, und das, obwohl er drei Jahre älter und zwanzig Kilo schwerer war. Sie wird mich an Belles Stärke und ihre Entschlossenheit erinnern.«
Raphael sah sie lange an. »Aber diese Erinnerungen sind in Finsternis gehüllt.«
Dem hatte sie nichts entgegenzusetzen. »Vielleicht ist es endlich an der Zeit, diese Finsternis anzunehmen, anstatt ständig vor ihr davonzulaufen.«
»Nein.« Raphael hatte das Kinn so energisch vorgeschoben, dass es eine einzige gerade Linie bildete. »Ich werde es nicht zulassen, dass Lijuan dich in einen immerwährenden Albtraum zerrt.«
»Dann überlässt du ihr aber den Sieg.«
Brutal küsste er sie. »Nein, wir lassen sie nur in dem Glauben, sie hätte gewonnen.«
Raphael hatte sich Lijuans Geschenk vom Halse geschafft und flog nun im Schutz der Nacht zurück zur Zufluchtsstätte. Zwar hatte er Elena die Wahrheit gesagt, aber eben nicht die ganze Wahrheit.
Er hatte es getan, um sie zu schützen.
Und obwohl sie es wusste, hatte sie sich von ihm überreden lassen. Mehr als alles andere hatte ihm dies vor Augen geführt, wie tief ihre Verletzungen waren. Einmal, als Uram noch bei Verstand war und sich an seine Jugend erinnern konnte, hatten sie sich miteinander unterhalten.
»Menschen«, hatte der Erzengel gesagt, »haben ein solch flüchtiges Leben.«
Raphael, der noch nicht einmal dreihundert Jahre alt war, hatte zustimmend genickt.
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