Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
»Unter meinen Freunden sind Menschen. Wenn sie über Liebe und Hass sprechen, frage ich mich, wie viel sie davon überhaupt verstehen.«
Bis auf den heutigen Tag konnte er sich an Urams Gesichtsausdruck erinnern – ein älterer Mann, der die Überheblichkeit der Jugend belächelt. »Es ist nicht die Menge, die zählt, Raphael. Wir lassen unser Leben vorbeirauschen, weil es unendlich ist. Menschen müssen tausend Leben in eins packen. Jeder Schmerz wiegt schwerer, und jede Freude strahlt heller.«
Raphael war zutiefst überrascht – denn schon damals hatte sich Uram seinen zügellosen Ausschweifungen hingegeben, seiner Grausamkeit freien Lauf gelassen. »Es hört sich an, als würdest du sie beneiden.«
»Manchmal tue ich das auch.« Mit leuchtend grünen Augen blickte er auf das Menschendorf hinab, in dessen Mitte die alte Burg lag, die sie zu der Zeit bewohnten. »Was wäre wohl aus mir geworden, wenn ich gewusst hätte, dass ich nur fünf oder sechs armselige Jahrzehnte Zeit hätte, um zu Ruhm zu gelangen?«
Am Ende war Uram zu Ruhm gelangt, doch war dieser Ruhm ein ganz anderer, als ihn sich sein jüngeres Selbst gewünscht hätte. Nun würde man sich immer an ihn als einen der Erzengel erinnern, die im Kampf um Einfluss und Macht ihr Leben gelassen hatten. Selbst unter den Engeln kannten nur wenige die Wahrheit – dass Uram nämlich zu einem Blutengel geworden war, angefüllt mit Toxinen, die sein Blut in pures Gift verwandelt hatten. In diese Art von Blutrausch war Raphaels Vater Nadiel nie gefallen. Aber dessen Gier nach Macht war in vielerlei Hinsicht trotzdem noch schlimmer gewesen.
Als er Elena auf dem Balkon stehen sah, immer noch in seinem Hemd, die prächtigen Flügel wie zum Fliegen weit geöffnet, stieß er im Sturzflug hinunter.
Raphael! Ein Schrei, von Staunen und Schrecken gleichermaßen erfüllt.
Und in ihm regten sich längst vergessen geglaubte Gefühle, Gefühle eines Jungen, dessen Vermessenheit Uram einst so amüsiert hatte. Er stieg wieder auf, um im nächsten Moment erneut spiralförmig nach unten zu stürzen – ein weniger virtuoser Flieger hätte dabei ohne Weiteres an den Felsen zerschellen können.
Auf halber Höhe spürte er, dass Elena sich mit seinem Geist verbunden hatte, er spürte, wie sie die Luft anhielt und den Rausch des Fallens miterlebte. Dann schlug er eine elegante Volte und stieg wieder auf. Elena begleitete ihn, bis er sich von einer kräftigen Luftströmung auf den Balkon treiben ließ.
Einen Moment lang starrte sie ihn nur fassungslos an, faltete ihre Flügel zusammen. »Was« – sie schüttelte den Kopf – »war das gerade?«
»Du hast dich mit mir verbunden.« Eigentlich eine Sache der Unmöglichkeit, schließlich war er ein Erzengel und seine Abwehrschilde undurchdringlich. Aber Raphael konnte sich daran erinnern, dass es ihr schon einmal geglückt war – als Mensch. An jenem Tag hatte er sich ganz in ihr verloren, hatte sich ihrem wilden Verlangen hingegeben und schließlich aufgehört zu denken. Danach hatte er dann ihre Wut zu spüren bekommen, da sie der Meinung gewesen war, er habe sie zu allem gezwungen. Seine Jägerin hatte nicht begriffen, was passiert war.
»Unter den Menschen gibt es welche – unter einer halben Milliarde vielleicht einen –, die aus uns etwas anderes machen als das, was wir eigentlich sind. Schranken fallen, der Funke springt über, und ein Geist verbindet sich mit dem anderen.«
Lijuan hatte den Menschen, der sie im Innersten berührt hatte, getötet.
Raphael hatte sich stattdessen für die Liebe entschieden.
»Ich habe genau gespürt, was du fühlst.« Elenas Augen strahlten vor Freude. »Geht dir das auch so, wenn du in meinem Kopf bist?«
»Ja.«
Sie zögerte, dann sah sie ihn ernst an. »Dir gefällt es nicht, oder? Dass ich deine Barrieren durchbrechen kann.«
»Seit über tausend Jahren bin ich es gewohnt, allein in meinem Kopf zu sein.« Mit dem Handrücken strich er ihr über die Wange. »Es ist ein … beunruhigendes Gefühl, wenn noch jemand drin ist.«
»Jetzt weißt du endlich, wie es mir dabei geht.« Vielsagend zog sie eine Braue hoch. »Es ist einfach nicht schön, wenn man keine Privatsphäre hat.«
»Ich habe noch nie versucht, deine tiefsten Gedanken zu ergründen.«
»Aber woher soll ich das wissen?«, fragte sie. »Wenn du jederzeit ungeniert in meinen Geist eindringst, wie kann ich da sicher sein, dass alles, was ich mit dir teile, auch freiwillig geschieht?«
Zum allerersten Mal schien
Weitere Kostenlose Bücher