Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
suchten, und als Nehas Tochter war sie eine mächtige Person, die Elena nicht grundlos verärgern wollte. »Namaste.«
Unverhohlen begutachtete Anoushka sie von oben bis unten. »Ich war so neugierig.« Das hatte sich wie bei einem Teenager angehört. Sie näherte sich Elena sehr anmutig in ihrem weißen, mit puderrosa und puderblauen Stickereien verzierten Sari. »Du siehst aus wie ein Mensch, nur dass du Flügel hast«, murmelte sie. »Auf deiner Haut ist jeder blaue Fleck, jede Wunde sofort zu sehen.« Wie beiläufig sie das sagte und wie drohend es klang.
Elena antwortete ihr ganz aufrichtig. »Deine Haut dagegen ist makellos.«
Ein Blinzeln von Anoushka, als sei sie überrascht. Dann verneigte sie sich kaum merklich. »Ich glaube, es ist schon hundert Jahre her, seit ich von einem anderen Engel ein Kompliment bekommen habe.« Ihr Lächeln sollte sicher charmant wirken, aber … »Begleitest du mich auf meinem Spaziergang?«
»Tut mir leid, aber ich bin gerade auf dem Weg zum Training.« Aus den Augenwinkeln konnte sie Galen sehen, hoffte, er würde nicht näher kommen. Bis jetzt wirkte Anoushka lediglich interessiert. Bei dem kleinsten Anzeichen von Aggression konnte die Stimmung jedoch umschlagen.
»Natürlich.« Anoushka winkte eilig ab. »Es muss Raphael beunruhigen, eine Gefährtin zu haben, die so schwach ist.«
Die andere in ihrem Rücken zu haben, fühlte sich an wie krabbelnde Käfer auf der Haut. Elena war beinahe erleichtert, als Galen neben ihr auftauchte – lieber nahm sie es mit einem Waffenprofi als mit einem Engel auf, der vielleicht eine echte Kobra war. Den Gerüchten zufolge sollte Anoushka das Gift schon mit der Muttermilch eingesogen haben.
Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken, und sie freute sich richtig auf ein anstrengendes Nahkampftraining. Doch da wurden sie von einem weiteren Geschöpf Nehas unterbrochen, von Venom. Der Vampir trug wieder einmal seine obligatorischen schwarzen Gläser und einen schwarzen Anzug. Aber zum ersten Mal fehlte jeder Ausdruck von Spott in seinem Gesicht. »Kommen Sie. Sara wartet am Telefon.«
Eilig folgte sie ihm. »Ist irgendetwas mit Zoe?« Die Angst um ihr Patenkind schnürte ihr die Kehle zu.
»Sie sollten lieber selbst mit ihr sprechen.«
Als Elena die Stufen zu Raphaels Büro hochstieg, schleiften ihre Flügel über den Boden. Instinktiv hob sie sie an. Diese Bewegung war ihr schon zur zweiten Natur geworden, denn Galen hatte nur zu gerne die Gelegenheit genutzt, sie auf ihr Hinterteil zu befördern. Galen war ohne Erbarmen. Der leiseste Fehler, und schon lag Elena am Boden. Im Grunde war sie ihm dankbar dafür, denn Lijuans Wiedergeborene würden auch keine Rücksicht auf sie nehmen, nicht wenn ihre Herrin es sich in den Kopf setzte, ihre Lieblinge auf die Festgäste loszulassen.
Venom geleitete sie den Korridor entlang, der zum Büro führte, und blieb als Wache neben der Tür stehen. Sie wusste auch, ohne zu fragen, dass Illium ebenfalls ganz in der Nähe war, denn während Raphaels Abwesenheit waren nie weniger als zwei seiner Sieben bei ihr. Es ärgerte sie und machte sie fuchsteufelswild. Schließlich hatten ihre Kräfte wieder zugenommen, und ihre Techniken wurden immer ausgeklügelter. Aber sie musste den Tatsachen ins Auge sehen, sie war kein Erzengel, und abgesehen von der Bedrohung durch die Dolche, war Michaela immer noch in ihrer Nähe. Und gleichgültig, ob sie eine Schwäche für Kinder hatte – für Elena hatte sie definitiv nichts übrig.
Bei ihrem letzten Telefonat mit Ransom hatte er ihr erzählt, dass die Vampire Wetten darüber abschlössen, ob Elena lange genug am Leben bleiben würde, um an Lijuans Ball teilzunehmen oder auch den Ball selbst zu überstehen.
»Schenkt man den Gerüchten Glauben, dann will man deinen Kopf auf einem goldenen Tablett. Michaela hat die Belohnung verdreifacht, wenn man ihr nicht nur deinen Kopf, sondern auch deine Hände bringt.«
Kaum hatte sie das Büro betreten, griff sie auch schon nach dem Hörer und sagte: »Sara?«
»Ellie.« Saras Stimme klang ungewohnt – eine Mischung aus Furcht und Zorn. »Ich habe deinen Vater am anderen Ende der Leitung.«
Elena umklammerte den Hörer noch fester. Jeffrey Deveraux hatte sie bei ihrer letzten Begegnung mehr oder weniger als Nutte beschimpft. »Was will er?«
»Es ist etwas geschehen.« Sara hielt inne. »Ich könnte es dir ja sagen, aber ich glaube, er sollte es selbst tun.«
Elenas Blick verfinsterte sich, und auch wenn Sara
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