Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
hatte im selben Moment schon das Messer unter ihrem Kopfkissen hervorgeholt, wo sie es aus lauter Gewohnheit aufbewahrte. Raphael sah sie an, als sie mit erhobener Klinge über ihm hing, jederzeit bereit zuzustoßen.
Wie von Sinnen war sie, ihr ganzer Leib zitterte vor Anspannung – sie wollte losschlagen.
Elena. Der Duft des Windes und der See. Du bist sicher.
»Ich werde niemals sicher sein.« Ein unterdrückter Schrei – leise und voller Schmerz. »Er verfolgt mich in meinen Träumen.«
»Wer?«
»Das weißt du doch.« Sie wollte das Messer loslassen, aber ihre Muskeln ließen sie im Stich.
»Sprich seinen Namen aus. Mach kein Phantom aus ihm.«
Ihr stieg die Galle hoch. »Slater Patalis.« Der niederträchtigste Vampirmörder jüngerer Zeit. »Wir waren sein letzter Imbiss.«
»In den Akten steht, dass die Jäger ihn schnappen konnten, weil du ihn außer Gefecht gesetzt hattest.«
»Ich kann mich daran erinnern, dass ich ihm ins Auge gestochen habe, aber das hätte ihn sicherlich nicht aufhalten können.« Endlich ließen sich ihre Finger öffnen, und wenn Raphael das Messer nicht aufgefangen hätte, wäre es in ihrem Oberschenkel gelandet.
Raphael legte es auf den kleinen Nachttisch und sagte: »Deine Erinnerungen sind also lückenhaft?«
»Nach und nach werden sie immer vollständiger.« Sie starrte an die Wand und sah nichts als Blut. »Ich habe immer wieder einzelne Bilder gesehen, aber wie ich jetzt weiß, waren das nur wirre Einzelteile. Aber was ich heute Nacht gesehen habe …« Ihre Augen brannten, ihre Hände krampften sich in die Oberschenkel. »Das Monster hat meiner Mutter die Beine gebrochen, sie ans Bett gefesselt und sie zuhören lassen, wie es Ari und Belle ermordet hat.«
Raphael breitete die Arme aus. »Komm her, Jägerin.«
Elena schüttelte den Kopf, sie wollte keine Schwäche zeigen.
»Selbst Unsterbliche«, sagte Raphael leise, »haben Albträume.«
Und dabei meinte er nicht sie. Irgendwie wurde ihr leichter ums Herz. Elena ließ sich in seine Arme fallen, vergrub ihr Gesicht in seiner warmen Halsbeuge, füllte ihre Lungen mit seinem klaren, frischen Duft. »Später habe ich dann die blutigen Streifen auf dem Teppich bemerkt, auch nachdem er sie schon so schwer verletzt hatte, hatte sie noch versucht, zu uns zu gelangen. Aber er ist zurückgekommen und hat sie wieder im Bett festgebunden.«
»Deine Mutter hat um dich gekämpft.«
»Kurz nachdem ich sie gefunden hatte, hat sie das Bewusstsein verloren. Ich war so verängstigt, fürchtete mich davor, mit ihm alleine zu sein, aber letztendlich war ihre Bewusstlosigkeit eine Gnade.« Ihr drehte sich der Magen um, denn tief in ihrem Inneren wusste sie, dass Slater ihrer Mutter noch ganz anders wehgetan hatte – und sie hatte zuschauen müssen. »Ich bin nur nicht ohnmächtig geworden, weil ich wusste, dass Beth bald nach Hause kommen würde, sie hatte bei einer Freundin übernachtet. Auf keinen Fall konnte ich zulassen, dass sich das Scheusal an Beth vergreift. Aber bis dahin war es schon verschwunden.«
»Also ist deiner jüngsten Schwester der ganze Horror erspart geblieben?«
»Ich weiß nicht«, sagte Elena. Sie musste an den verständnislosen Ausdruck in Beths kleinem Gesicht denken, als Ari und Belle beerdigt wurden. »Sie hatte zum ersten Mal woanders übernachtet, später dann nie wieder. Sie hatte Angst vor dem, was sie erwarten könnte, wenn sie am nächsten Tag nach Hause käme.«
»Auch in dir schlummern verborgene Ängste«, murmelte Raphael. »Wovor fürchtest du dich?«
»Ich glaube«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme, »dass er etwas mit mir gemacht hat.« Er hatte sie und Marguerite am Leben gelassen, während Ari und Belle ihren Tod auf den Küchenfliesen fanden.
»Erzähl es mir.« Raphaels Worte waren wie eine kühle Brise.
Elena genoss die Kälte, hüllte sich darin ein wie in einen Sicherheitskokon. »Bis zu diesem Teil der Ereignisse bin ich noch nicht vorgedrungen.« Panisch begann ihr Herz zu rasen, Hilfe suchend hielt sie sich an Raphaels starken Armen fest. »Es muss sehr schlimm gewesen sein, denn ich hatte es vollkommen aus meiner Erinnerung verbannt.«
»Vielleicht hat deine Verwandlung zum Engel die Erinnerungen wieder hervorgeholt.« Seine Arme umschlangen sie stark wie Granit, schützend, unbezwingbar. »Dein Koma hat möglicherweise die gleichen Bewusstseinsebenen geöffnet wie bei uns das Anshara.«
Bei seiner Jagd auf Uram war er in diesen tiefen Heilschlaf gefallen, war in
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