Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
visierte sie ihr Ziel an, richtete die Messer aus, brachte die Füße in Position. Als Engel sah sie besser als zuvor, wenngleich nicht sehr viel besser – noch nicht.
Letzten Endes traf sie Illium noch zweimal, beim dritten Mal verpasste sie ihn nur um Federnbreite. Illium stieß herab. »Ich darf mit auf die Jagd.«
»Dir wird das Lachen noch vergehen, wenn wir durch irgendeinen moskitoverseuchten Sumpf robben.«
»Also vor Moskitos …«
Doch bevor Illium sich unterbrach, war Elena schon herumgewirbelt, denn sie hatte den Geruch von drei unbekannten Vampiren wahrgenommen. Aber in der Tür stand ein Engel. Seine exotischen Wangenknochen und die fast pechschwarzen Augen waren nicht im Mindesten so ungewöhnlich wie seine Flügel, auf die Elena noch einen kurzen Blick werfen konnte, bevor er sie zusammenfaltete.
Dunkelgraue Musterung mit blutroten Streifen.
Atemberaubende Flügel.
Doch statt Bewunderung empfand Elena eine tiefe, urwüchsige Angst, die sie bis in die Eingeweide erschrecken ließ und ihre Sinne und Reflexe schärfte. »Wer ist das?« Sie fühlte sich erdrückt von seiner Macht.
Ein Schwert wurde aus der Scheide gezogen. »Xi gehört zu Lijuan.« Illium blieb neben ihr stehen, während Galen dem Ankömmling zur Begrüßung entgegenging. »Er ist neunhundert Jahre alt.«
»Warum ist er denn kein Erzengel?« Mit dieser Kraft hätte er mühelos Städte verwüsten können, Tausende auslöschen.
»Nur solange Lijuan lebt, wird Xi machtvoll sein. Ohne sie würde sein Körper nicht diese Kraft besitzen.«
»Können das alle Erzengel?«, fragte sie, und es überlief sie kalt, als sie merkte, dass Xis Augen über ihre Flügel glitten. »Ihre Macht mit jemandem teilen?«
»Lijuan ist der einzige.«
Offenbar verhandelte Galen mit Xi, denn nach ein paar Minuten schlug der chinesische Engel seine Hacken wie zu einem militärischen Gruß zusammen und überreichte ihm eine glänzende Holztruhe. Aber seine Augen ruhten eine eisige Sekunde lang auf Elena.
Sobald Xi verschwunden war, trat sie zu Galen. Der rothaarige Engel stand immer noch mit dem Rücken zu ihr, sein Blick war auf den Eingang geheftet. »Es wäre besser«, sagte er mit kristallklarer Stimme, »wenn Sie warten würden, bis Raphael zurück ist, bevor Sie sie öffnen.«
»Raphael trifft sich gerade mit Michaela und Elias. Das kann noch Stunden dauern.«
»Ich werde den Sire in Kenntnis …«
»Nein.« Sie berührte die Truhe und zuckte unweigerlich zusammen, so unmenschlich kalt war sie. »Das Treffen ist enorm wichtig – es geht um Titus und Charisemnon.«
Illium legte ihr leicht die Hand auf die Schulter. »Lijuan spielt ihre Spielchen mit dir, Elena. Mach die Kiste nicht ohne Raphael auf.«
Auch wenn sie ihre körperliche Unterlegenheit wurmte, akzeptierte sie sie doch, aber nur solange die Jägerin in ihr damit einverstanden war. »Nenn mir einen Grund.«
»Ich weiß nicht, was in der Kiste ist«, sagte Illium, seine Augen verdunkelten sich, sodass das weiche Gold auf einmal rasiermesserscharf wirkte, eine Mahnung, dass hinter Illiums Verspieltheit ein Mann steckte, der ebenso grausam und unbarmherzig sein konnte wie sein Sire, »aber es ist auf jeden Fall dazu gedacht, Raphael zu schwächen.«
»Meinst du, sie will mir schaden?« Elena starrte so lange auf die Schnitzereien auf dem Kasten, bis sich die Schnörkeleien zu dem entsetzlichen Bild zusammensetzten, das sie auch waren. »Leichen. Alles Leichen.«
»Ich glaube«, sagte Illium und legte ihr nun beide Hände auf die Schultern, die Daumen auf ihrem Nacken, »dass es viele Arten gibt, dich zu verletzen. Nicht alle davon sind körperlicher Natur.«
Elena spielte mit dem Verschluss, sie holte tief Luft, und ihre Lungen weiteten sich. »Ich rieche sie. Frisches Gras mit zerstoßenem Eis, eine warme Wolldecke mit Rosenblättern, durch Seide gefiltertes Blut.« Ihr Herz hämmerte vor Aufregung, bereit, die Verfolgung aufzunehmen, zu jagen. Unter ihren Fingern wurde die Truhe zunehmend wärmer, als sauge sie die Lebenskraft aus Elena.
Sie schluckte schwer und schob diesen Gedanken beiseite. »In der Truhe sind Teile von Vampiren. Organe. Die riechen immer am intensivsten.«
»Es wird Zeit, dass wir selbst aktiv werden.«
Sie ließ den Verschluss los. »Ich muss sie gar nicht erst aufmachen, ich weiß auch so, was drin ist.« Lijuan hatte lediglich Raphaels Geschenk zurückgeschickt. Und wenngleich Elena einerseits ein wenig entsetzt über die Art von Raphaels Warnung war,
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