Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
war sie andererseits auf eine nahezu boshafte Weise froh – dieser rohe, primitive Teil von ihr hatte in einem blutbesudelten Zimmer vor zwanzig Jahren das Licht der Welt erblickt. »Mach damit, was du willst.« Sie drehte sich auf dem Absatz um, löste sich aus Illiums Griff und ging hinaus in die beißend kalte Bergluft des frühen Abends.
An einem zerklüfteten Felsen wartete Venom, ein recht seltsamer und wilder Hintergrund für einen Vampir, der aussah, als sei er einem Hochglanzmagazin entstiegen. Ihr verschwitztes und angespanntes Gesicht spiegelte sich in seinen schwarzen Gläsern, sein eigenes wirkte wie immer unberührt. »Wie viel Wachs brauchen Sie eigentlich, um Ihr Haar so perfekt in Form zu halten?«, murmelte sie, als sie an ihm vorbeigehen wollte.
Im selben Augenblick hatte er ihr auch schon den Weg verstellt. »Das ist ein Geschenk der Natur.«
»Heute sollten Sie mir lieber nicht dumm kommen.« Elena würde sich nicht von Lijuan in die Falle locken lassen und in Raphael ein Monster sehen, wenngleich … jedes Mal, wenn er wieder eine Grenze überschritt, war ihr, als schlage ihr die Wirklichkeit ins Gesicht. Eine Wirklichkeit, in der Erzengel mit dem Leben von Unsterblichen und Sterblichen spielten, als seien sie die Bauern eines Schachspiels.
Venom lächelte, und bei diesem Anblick wären wohl viele Frauen in die Knie gegangen. Er strahlte eine Erotik aus, die sagte: Mit mir ist selbst der Tod noch schön. »Ich versuche zu verstehen, was er in Ihnen sieht.«
Elena stieß mit dem Messer nach ihm, verfehlte seinen Arm nur knapp. Venom war unfassbar schnell ausgewichen. Und als wäre er nie ein Mensch gewesen, erinnerten seine Bewegungen nur an das Wesen, das Neha als ihren Avatar gewählt hatte. Aber selbst das konnte Elena heute nicht beeindrucken. Sie lief einfach weiter.
Im nächsten Augenblick tauchte der Vampir schon wieder an ihrer Seite auf. »Bei Dmitri«, murmelte er, »kann ich immerhin verstehen, warum er mit Ihnen spielen möchte. Er steht auf Messer und Schmerzen.«
»Und Sie etwa nicht?« Nur zu gut konnte sie sich an die Begebenheit in der Tiefgarage erinnern: Venom, wie er mit der Geschmeidigkeit eines Panthers auf eine Frau zugetänzelt war, die angesichts seines gefährlichen Sex-Appeals die Sprache verloren hatte. Sein Ausdruck war der eines Mannes gewesen, dem eine Frau gefällt … aber gleichzeitig hatte hinter den Augen die Gier eines ganz anderen Wesens gelauert. »Schließlich sind Sie derjenige, der Gift absondert.«
»Sie ebenfalls.«
Sie blieb stehen, blinzelte und musste sich mit den Händen auf den Knien abstützen. »Mist!« Wie konnte sie das nur übersehen haben? Warum hatte sie Raphael nicht gefragt, welche Konsequenzen ihre Verwandlung in einen Engel haben würde?
Wenn sie ganz ehrlich mit sich war, konnten die Fragen mit nur einem Wort beantwortet werden.
Angst.
Sie fürchtete sich. Fürchtete sich, den Tatsachen ins Auge zu sehen, die ihr neues Leben mit sich brachte. Fürchtete, eines Tages selbst in Augen wie die von Geraldine zu blicken, die sie anhimmelten, um dann zu spät zu begreifen, ein Opfer geschaffen zu haben. Beute für die Unsterblichen, die ihre Opfer wie die Haie umzingelten.
Heiß und kalt brannten ihr die Wangen. »Wann?«
Venom lächelte sie an. »Wenn die Zeit reif ist.«
»Wissen Sie«, sagte sie und richtete sich wieder auf, auch wenn ihr mit einem Mal ganz flau im Magen war, »wenn Sie einen auf geheimnisvoll machen, dann dürfen Sie dabei nicht ständig grinsen.«
Venoms Antwort wurde von einem dünnen, blechernen Summton unterbrochen. Er bat mit einer Geste um Ruhe, zog ein kleines, glänzend schwarzes Handy aus der Tasche und las die Textnachricht. »Wie schade, uns bleibt keine Zeit mehr zum Plaudern. Sie müssen zu Ihrem Termin.«
Elena fragte erst gar nicht, mit wem sie überhaupt zusammentreffen würde – der Vampir würde ihre Unwissenheit nur wieder ausnutzen. Stattdessen beeilte sie sich, zur Festung zu kommen, schlug Venom die Tür zu ihrem Privatflügel vor der Nase zu und zog sich rasch aus. Dabei vermied sie es tunlichst, an die Kiste zu denken und an das, was unter den makaberen Schnitzereien eingeschlossen war.
Eine Viertelstunde später klopfte es an der Tür. Elena hatte sich mit dem Duschen beeilt, und als sie jetzt die Tür öffnete, stand ein sehr alter Vampir mit zwinkernden Augen vor ihr. Um den Hals trug er ein Maßband, und außerdem hatte er ein Nadelkissen dabei. Sein Assistent folgte ihm mit
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