Gilde der Jäger: Engelsblut (German Edition)
ihm um, nur wenige Zentimeter trennten sie von ihm. Er legte ihr die Hand in den Nacken und strich mit dem Daumen über ihre Halsschlagader. »Nicht viele kennen diese spezielle Bestrafung .« Doch er kannte sie. Er war dabei gewesen, ein kleiner Junge, der selbst damals schon verstanden hatte, dass der Gerechtigkeit Genüge getan werden musste. »Meine Mutter wollte keine Göttin sein wie Lijuan oder Neha. Und sie wollte auch nicht über Imperien herrschen wie mein Vater .«
Wie ein seidiger Wasserfall fiel Elenas Haar über ihren Arm, als er ihren Kopf emporhob, damit sie ihn ansah, während er mit ihr sprach. Sie stellte keine Fragen, doch jeder Teil von ihr stand ihm im Kampf gegen die Dunkelheit, die unaufhaltsam näher kam, unverrückbar zur Seite.
»Aber sie wurde wie eine Göttin behandelt, und sie herrschte « , murmelte er, »so wie ich herrsche .« Er hatte das Herrschen von seiner Mutter gelernt, hatte gelernt, dass es einen Weg gab, der sowohl Respekt als auch Bewunderung hervorrief, ohne die lähmende Furcht zu verbreiten, die so viele Erzengel umgab. »Sie herrschte über die Sumerer, doch es gab eine besondere Stadt, die sie als ihre Heimat ansah. Sie hieß Amanat .«
Seine Jägerin legte ihm die Hand um die Hüfte, Furchen malten sich auf ihrer Stirn. »Ich habe davon gehört, in einer Fernsehreportage über untergegangene Städte .«
»Amanat und seine Einwohner verschwanden, als Caliane verschwand .« Manche sagen, sie habe ihr Volk mit in den Schlaf genommen, damit sie bei ihrem Erwachen da wären, um sie willkommen zu heißen. Die meisten glauben, sie habe alle ermordet, bevor sie sich selbst das Leben nahm, weil sie sie zu sehr geliebt habe, um sie der Herrschaft eines anderen zu überlassen. Amanat soll Calianes Grab sein.
Elena strich mit den Fingern über den Rand seines Flügels. Er breitete sie weiter aus, damit sie sie leichter erreichen konnte. Ein Tropfen Wasser fiel aus einem Büschel winziger weißer Blüten und rann seine Federn hinab, während sie die Einladung annahm und ihn fester streichelte. »Welche Version glaubst du ?«
Er hob sie auf seine Oberschenkel und stützte sie, damit sie die Hände frei hatte. »Meine Mutter liebte schöne Dinge « , sagte er. »Erinnerst du dich an den Rubin in meinem Büro im Turm ?« Die geschliffene Pracht des unbezahlbaren Edelsteins war makellos. »Sie hat ihn mir zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt .«
»Sie hatte einen einwandfreien Geschmack .«
»Amanat « , fuhr Raphael fort, »war ihr Juwel unter den Juwelen. Sie liebte diese Stadt, ja, sie liebte sie wirklich. Ich habe die glücklichsten Jahre meiner Kindheit damit verbracht, wild durch ihre gepflasterten Straßen zu rennen .«
»Junge Engel werden so gut behütet « , murmelte Elena, während sie die Innenseiten seiner Flügel streichelte. Ihre Hände waren vom Waffentraining schwielig – die Hände einer Kriegerin – , doch er wollte keine anderen Hände auf seinem Körper spüren.
»Meine Mutter « , begann er von den Anfängen seines Daseins zu erzählen, »vertraute den Menschen von Amanat in einer Weise, in der ein Erzengel selten irgendjemandem traut .« Erinnerungen an heiße Sommertage, an denen er über die uralten, aus behauenen Steinen errichteten Gebäude geflogen war, mit sterblichen Freunden gespielt hatte und von den Erwachsenen verhätschelt und bewundert worden war. »Und sie liebten sie. Es war nicht die Art von Anbetung, die Lijuan oder auch Neha zuteilwird. Es war … auf eine besondere Art unverdorben, die ich nicht beschreiben kann .«
»Du hast es gerade getan « , flüsterte Elena. »Liebe. Was sie fühlten, war Liebe .«
Er senkte den Kopf ein wenig und spielte mit den sich kräuselnden Haaren, die ihr in die Stirn fielen. »Sie war eine gute Herrscherin. Vor ihrem Wahnsinn war sie genau so, wie ein Erzengel sein sollte .«
Die Augen seiner Gemahlin verwandelten sich in warmes, flüssiges Quecksilber. »Die Geschichtsbücher, die mir Jessamy zu lesen gegeben hat, besagten dasselbe. Dass sie der meistgeliebte Erzengel war, den es jemals gab. Dass selbst der Kader ihr Respekt zollte .«
Er spreizte die Beine ein Stück und zog sie nah genug an sich heran, dass sie das Gesicht an seinen Hals schmiegen und seinen Nacken umfangen konnte, während sie weiter die empfindsame Wölbung seines linken Flügels streichelte. »Der Grund dafür, dass die Menschen von Amanat sie so geliebt haben « – er atmete den Duft seiner Jägerin ein, den Duft nach
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