Gilde der Jäger: Engelsblut (German Edition)
Sterne fielen herab.
Am nächsten Tag gab es keinen Zauber. Selbst das Frühlingswetter, das der atemberaubende Sonnenaufgang versprochen hatte, wurde von eisiger Angst verdrängt, denn die eingetretene Ruhe wurde auf überaus drastische Weise gebrochen.
Elena war zur Unterseite der Manhattan Bridge geflogen, hatte sich mit den Fingern in der massiven Stahlkonstruktion eingehakt und starrte nun auf die fünf leblosen Gestalten, die von der Unterseite der Brücke herabhingen. Sie waren bei Tagesanbruch von einem der Schiffe aus, die auf diesem Abschnitt des East River verkehrten, entdeckt worden – der Zeuge kotzte sich offenbar noch immer die Seele aus dem Leib.
Elena musste selbst würgen, als sie die leblosen Körper an den Seilen baumeln sah.
Schaukeln so sanft. Ein Fuß nackt, einer in einem schimmernden Pumps.
»Keine Schatten « , sagte sie, um gegen den Albtraum anzukämpfen. »Es gibt keine Schatten .« Dafür war es zu früh am Tag, und für diese Gnade konnte sie nur dankbar sein. »Eins, zwei, drei .« Ihre Finger weigerten sich, den Griff zu lösen.
Wieder kam ein Wind vom Fluss auf. Die Gestalten schaukelten.
»Hey, haben Sie etwas Brauchbares gefunden ?« Santiagos markante Stimme drang aus dem Funkgerät, das an ihrem Ohr klemmte.
»Nein « , brachte sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. »Lassen Sie mich näher ran .« Und meinen Job machen. Sie würde nicht zulassen, dass ihre Vergangenheit ihr die Zukunft raubte.
Sie atmete tief durch und löste Finger für Finger von der Brücke, dann ließ sie sich tief genug hinabsinken, um über dem Wasser kreisen zu können und von dort aus zu einer Position hinaufzufliegen, die näher an den Leichen war. Während sie über den aufgepeitschten Wellen in die Höhe stieg, hielt sie den Blick entschlossen auf den Punkt unter der Brücke gerichtet, an dem sie die Arme einhängen wollte, um sich daran festzuhalten. »Das hier wäre leichter, wenn ich ein Mensch wäre « , murmelte sie.
»Wirklich ?«
Sie zuckte zusammen, sie hatte vergessen, dass Santiago alles hören konnte. »Gurte wären hilfreich « , sagte sie. »Aber es ist unmöglich, die Flügel da hineinzubekommen .«
»Wir werden einen Extrasatz für Sie anfertigen lassen müssen .«
Nichts an seinem Tonfall deutete darauf hin, dass er scherzte.
»Vielen Dank .« Dafür, dass er ihre Flügel ebenso selbstverständlich akzeptierte, wie er einen neuen Mantel akzeptiert hätte.
Da.
Sie suchte sich einen Halt an dem Metall und hielt sich mit einem Arm fest, während sie sich mit einem Bein unter dem Träger einhakte. Erst als sie eine stabile Position gefunden hatte, sah sie auf die Stelle hinunter, an der das dicke braune Seil um den Träger geschlungen war. Ihr Blick wanderte weiter – alle Toten hingen auf dieselbe Weise von der Brücke herab, alle Seile hatten die gleiche Länge.
»Da hat sich jemand Zeit genommen .« Es waren nicht nur die Genickbrüche, die sie umgebracht hatten – die meisten Vampire, die älter als ein Jahrzehnt waren, überlebten so etwas, solange es keiner Enthauptung nahekam, und ihre Jägerinneninstinkte sagten ihr, dass diese Männer alle älter als fünfzig waren, wenn auch nicht sehr viel älter. Nein, es war mehr die Tatsache, dass es so aussah, als seien ihre Herzen entfernt worden. Die Vorderseiten ihrer Hemden wiesen feuchte, klebrige Flecken auf, die nur eine Ursache haben konnten. In diesem Alter würde die zweifache Verletzung ausreichen, um sie zu töten, auch ohne dass der Kopf vollständig abgetrennt war.
»Das war bestimmt dieser verdammte Wie-heißt-er-noch? Der Kerl in dem rot-blauen Anzug mit dem Spinnendings .«
»Sie sind nicht gerade ein Cineast, Santiago, nicht wahr ?«
»Ich bin ein Mann. Ich gucke Football und Hockey, wie es sich gehört .«
Doch noch während sie auf seinen trockenen Humor einging, dachte Elena an die Vampire, die sie mit der Stärke und Schnelligkeit von Arachniden über Wände hatte flitzen sehen. Sie wusste, dass die Antwort kein Superheld aus einem Comic war, sondern etwas Prosaischeres – und womöglich auch Furchterregenderes, wenn Elena dem Hauch von Duft trauen konnte, den sie in der Luft wahrnahm.
Üppig. Sinnlich. Exotisch. Das Flüstern einer dunklen Regenfront, eine verborgene Lichtung.
Sie hielt die Flügel dicht an den Rücken gepresst, um nicht mit dem rostigen Metall um sie herum in Berührung zu kommen, und drehte sich so, dass sie direkt über dem ersten Vampir hing. Aus dieser Warte war
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