Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
dahingleitenden Außenwachposten leer. Außer den nächtlichen Insekten war hier innerhalb der Festungsmauern kein Laut zu hören, der Wind war so still wie ein spiegelglatter See, die Luft kühl, aber nicht kalt. Der Mann neben ihr war mit der Nacht verschmolzen, seine Flügel kaum von den Schatten zu unterscheiden.
»Er passt zu dir.« Einer seiner Flügel streifte über ihren, als er sie hinter ihr entfaltete.
Sie musste ein Zittern unterdrücken und lachte, ein weicher, inniger Laut in der Dunkelheit. »Ich bin nicht gerade die talentierteste Sängerin, aber das macht nichts.«
Sie spürte ein Zupfen an ihren Haaren, als Jason mit äußerster Geduld den Knoten in ihrem Nacken löste und die goldenen Nadeln auf dem Geländer aufreihte, wo sie in der Dunkelheit schimmerten. Dann fielen ihr die Haare über den Rücken und auf die Flügel. Mahiya zitterte. Sie war als Kind in einer Zeit geboren, in der eine Frau ihr Haar vor niemandem als ihrem Liebhaber offen zeigte, und ein Teil von ihr war noch immer dieses Kind.
Eine Intimität unter dem sternenklaren Himmel.
Als er in ihre Haare griff und die Hände um ihren Nacken legte, erwartete Mahiya, dass er sie umarmen und küssen würde, doch er strich nur mit dem Daumen über ihren Hals, ehe er die Knöchel an ihrer Wirbelsäule hinabgleiten ließ. Dann stützte er sich wieder mit den Unterarmen auf die Balkonbrüstung. Sein Flügel lag schwer auf ihrem. »Ich kann singen.«
Es war das Letzte, was sie von diesem Mann zu hören erwartet hätte, der ihre Abwehr zu durchbrechen drohte; seinetwegen lief sie Gefahr, die Geschichte der unerwiderten Liebe ihrer Mutter zu wiederholen. Aber nachdem sie seine Worte gehört hatte, tauchten in ihrem Kopf geflüsterte Gesprächsfetzen auf, die sie mit halbem Ohr mit angehört hatte.
»Seine Stimme soll schöner sein als die Calianes, heißt es.«
»… hat mir das Herz zerrissen.«
»Reinheit, das ist Jasons Stimme.«
Diese Sprecher waren alle über vierhundert Jahre alt gewesen. »Ich würde dich gern hören«, flüsterte sie.
»Ich habe seit vielen Jahren nicht mehr gesungen.«
»Was ist geschehen? Weshalb ist dein Gesang verstummt?«, fragte sie, denn jetzt, da er ihr zum ersten Mal einen Einblick in die Geheimnisse seines Lebens erlaubte, wollte sie ihn ermuntern fortzufahren.
Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort, aber sie deutete sein Schweigen nicht als Zeichen von Verärgerung, wusste sie doch, dass ein Mann wie Jason die Luft nicht mit Worten verstopfte. Stattdessen ließ sie sich davon verleiten, dass sich sein Kopf in dieser nach vorn gebeugten Haltung unter ihrem befand, und streckte die Hand nach dem Band in seinen Haaren aus, um seinen Zopf zu lösen. Wie schwarzes Wasser umrahmte es sein Gesicht, und er hinderte sie nicht daran, es zu glätten und über seine Schultern zu streichen. »Du hast so wunderschönes Haar.«
»Ich finde deines schöner.«
Seine Hände gruben sich in ihr Haar, seine Lippen auf ihrem Hals.
Die Schenkel zusammengepresst, ließ sie die Fingerspitzen über seine Kopfhaut fahren. »Dann passen wir gut zusammen.«
Er bog sich ein kleines Stück ihrer Berührung entgegen. »Die Lieder, die ich in meinem Herzen trug, ließen die Zufluchtsstätte in Tränen versinken. Deshalb habe ich aufgehört.«
Eine so endgültige Antwort hatte sie nicht erwartet, und für einen Moment fühlte sie sich aus der Bahn geworfen, ihre Finger verharrten regungslos. Sie hatte das panikartige Gefühl, als würde ihr eine Chance aus den Händen genommen oder eine einmalige Gelegenheit für immer verloren gehen. »Ist es dir schwergefallen aufzuhören?«, fragte sie, indem sie die Gelegenheit mit grimmiger Entschlossenheit beim Schopf packte.
»Ja«, sagte er schließlich. »Es war, als würde man mir ein Körperteil abtrennen, aber diese Lieder waren nicht gut für mich.«
Stirnrunzelnd öffnete sie den Mund, um ihn nach dem Grund zu fragen, doch dann hielt sie inne. Jason hüllte sich in Schatten – es stimmte, es würde ihm nicht guttun, der Dunkelheit in ihm eine Stimme zu verleihen, denn er würde darin versinken. »Wenn du jemals wieder etwas findest, das es wert ist, dafür zu singen«, sagte sie, während in ihrem Herzen eine leise, leidenschaftliche Hoffnung auf dieses Lied erwachte, »hoffe ich, dass du mich zuhören lässt.«
Jason stieß sich von der Brüstung ab, um sich zu seiner vollen Größe aufzurichten, gleichzeitig legte er die Flügel auf dem Rücken zusammen. Schon vermisste sie
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