Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
und sein Herz ein schwerer Klumpen, als er den Blick von der Wand löste und auf den Boden richtete, der jedoch war mit blassbraunen Streifen überzogen, und seine Füße hinterließen kleine Abdrücke auf den Holzdielen. Am Anfang war die Erde in dem Loch nicht feucht gewesen. Erst danach.
Nachdem die Schreie verstummt waren.
Er schloss die Augen, doch den Rost, der kein Rost war, roch er noch immer.
Und er begriff, dass er sich umdrehen musste.
Er musste es sehen.
Sie sah ihn von der anderen Seite des Zimmers an; ihre hübschen braunen Augen waren von einem weißen Film überzogen, der da nicht hingehörte. Ihr Kopf mit dem blutverkrusteten Halsstumpf stand aufrecht auf einem Tisch in der Ecke, als sei er genau zu diesem Zweck dort platziert worden.
Er schrie nicht. Er hatte gelernt, niemals zu schreien. Stattdessen sah er sich den Klumpen an, der die Falltür blockiert hatte. Er trug eine seidene Hülle in der Farbe leuchtender Amethyste.
Amethyst. So hatte seine Mutter ihre Lieblingsfarbe genannt. Amethyst.
Er hatte lange gebraucht, um das Wort richtig auszusprechen, und sie hatte jedes Mal vor Entzücken gelacht, wenn er das Wort benutzte, und ihr glänzendes schwarzes Haar hatte im Sonnenschein getanzt.
Erst als die Matte unter seinen Füßen raschelte, merkte er, dass er sich bewegte und den Klumpen mit dem amethystfarbenen Oberteil zu dem anderen Stück hinüberschleifte, das dazu passte. Merkte, dass er ihre Arme und Beine dazulegte und auch die ausgerissenen und blutverschmierten Federn ihrer silbrig weißen Flügel. Seine Brust schmerzte vor Anstrengung, die Glieder waren zu schwer für seinen kleinen Körper. Aber er musste es tun.
Hier im Schatten, geschützt vor direktem Licht, waren die Körperteile noch nicht von der Sonne getrocknet, und wieder wurden seine Hände schlüpfrig von dem dunklen Rot. Als ihm der Kopf aus den Händen glitt und auf den Boden schlug, biss er sich fest auf die Unterlippe, dann hob er ihn wieder auf und strich die Haare zurück, die seiner Mutter in die Augen gefallen waren. »Es tut mir leid, Mama.« Er hatte die Haare, die Haut und die Augen von seiner Mutter geerbt, hatte sie immer gesagt. Aber heute stimmte etwas mit ihren Augen nicht, sie lächelten nicht, wie sie es sonst stets taten, wenn sie sich in seine Richtung wandten.
Nachdem er den Kopf endlich an seinen Platz auf ihrem Rumpf gesetzt hatte, kniete er sich auf die Matte, die immer ein Karomuster auf seinen Knien hinterlassen hatte, und sagte: »Wach jetzt auf.«
Seine Mutter war unsterblich, genau wie er. Nur vierhundertfünfundsechzig Jahre alt, aber das war alt genug.
Engel lebten für immer.
Das sagten die Sterblichen, hatte seine Mutter ihm erzählt, sie selbst jedoch sagte, dass Engel einfach nur sehr lange lebten.
Er fasste sie an den Schultern, um sie zu schütteln. Ihre braune Haut war kalt, statt vor Wärme zu glühen. »Wach auf.« Er versuchte, nicht daran zu denken, was seine Mutter noch gesagt hatte, aber ihre Worte geisterten durch seine Gedanken. Sie hatten den melodischen Tonfall jener Insel, auf der sie geboren und aufgewachsen war, ehe sie an einem Ort, den sie Zufluchtsstätte nannte, zur Schule gegangen war.
»Engel können sterben. Es ist mühevoll, aber nicht unmöglich. Besonders bei jüngeren Engeln.«
Als er jetzt den mit amethystfarbener Seide bekleideten Rumpf ansah, wusste er, was das Loch in der Brust seiner Mutter zu bedeuten hatte. Ihr Herz war fort, herausgerissen. Auch in ihrem Bauch war ein Loch. Und ihr Kopf … Er war nicht zu schwer gewesen, er hatte ihn anheben können – weil auch er ein Loch hatte.
Das gesamte Innenleben seiner Mutter war verschwunden.
Ohne innere Organe konnte ein Engel ihres Alters und mit ihrer Macht nicht wiedererweckt werden und sich nicht regenerieren. Er schüttelte sie noch immer und flehte: »Wach auf, wach auf, wach auf!« Bis er merkte, dass er schrie, obwohl er eigentlich nie, niemals schreien sollte.
Er brachte sich zum Schweigen, indem er sich noch einmal so fest auf die Lippe biss, dass sie blutete, dann strich er seiner Mutter ordnend über das Haar, stand auf und öffnete mit seiner blutverschmierten Hand die Tür. Dahinter empfing ihn Stille. Er folgte den Spuren von getrocknetem Blut, um die Organe seiner Mutter zu finden. Wenn er sie wieder einsetzte, würde sie aufwachen. Ganz bestimmt.
Seine Flügel schleiften über den Boden und zogen schmutzige und rostrote Streifen über den glänzenden Holzboden. Dafür hätte
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