Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
einer Berührung verlockte. »Ich habe dir den Blutschwur geleistet. Haut und Federn sind viel näher an der Oberfläche als Blut.«
»Ich würde den Schwur nie auf diese Weise ausnutzen.« Um nicht eine noch viel schlimmere Übertretung zu begehen, indem sie die wilde Schönheit seiner Gesichtszeichnung nachfuhr, ballte sie die Hand zur Faust, richtete den Blick nach vorn und ging weiter. Ihre Haut brannte und wurde dann eiskalt. Ihr Herz geriet ins Stolpern … und Mahiya stellte fest, dass sie trotz ihrer wachsenden Faszination vor Raphaels Meisterspion Angst hatte.
Mit seiner leisen Stimme und seinen wachsamen Augen konnte Jason ihr unendlich viel gefährlicher werden, als Neha es je gewesen war. Er hörte ihr wirklich zu, wenn sie sprach, und hatte bereits Dinge über sie erfahren, die niemand sonst wusste. Ein solcher Mann brauchte sie nicht mit physischer Kraft zu überwältigen oder mit Lügen zu täuschen. Er würde sie einfach so gut kennen, dass er sie dazu bringen konnte, auf ihr eigenes Verderben hinzuarbeiten.
Zu spät erkannte sie, dass sie gerade auf einen Teil des Gebäudekomplexes zusteuerten, in dem Neha ihn unter keinen Umständen würde haben wollen. Ihre Handflächen wurden schweißfeucht. »In diese Richtung können wir nicht weitergehen.«
»Warum nicht?«
»Das ist Nehas Privatbereich. Ohne ihre Einladung ist er tabu.«
»Also gut.« Mit dieser verdächtig schnellen Zustimmung breitete er die Flügel aus und legte einen so schnellen Senkrechtstart hin, dass sie keine Chance hatte, ihn einzuholen.
Unwiderstehlich … und tödlich.
Diese Erkenntnis durfte sie nie wieder vergessen, wie groß auch immer die Versuchung wäre, die Klinge zu berühren. Es stand zu viel auf dem Spiel – ihre gesamte Existenz, ihr nacktes Überleben. Jason war ein Traum, den sie sich für ein anderes Leben aufsparen musste … aber zuerst musste sie lebend aus diesem herauskommen.
Nachdem sie ihn über den bauschigen, weißen Wolken, die über den Himmel krochen, aus den Augen verloren hatte, richtete sie ihren Blick wieder auf den Weg aus rotem Stein und auf den kleinen Palast, von dessen Betreten sie Jason abgeraten hatte. Neha hatte sich in die Festung zurückgezogen und würde nicht vor dem Morgen zurückkommen. Jason hatte sie allein gelassen. Eine bessere Gelegenheit, ihre Chance zu ergreifen, würde sie nicht bekommen.
Eine kalte Schweißperle rann ihr den Rücken hinunter, als sie weiterging.
Keiner der Wachmänner versuchte sie aufzuhalten – Neha hatte Mahiya schon oft hereingerufen, um ihr Besorgungen aufzutragen. Aber dazu hatte sie stets nur die vorderen Räume betreten. Heute nutzte sie den Umstand, dass auch die Wachen keinen Zutritt hatten, und folgte dem Gang bis zu dem Zimmer, das sich genau im Mittelpunkt des Palasts befand. Sie spürte, dass in diesem Raum Dinge vor sich gingen, die in ihrem Kopf ein warnendes Raunen auslösten, begleitet von der dringlichen Warnung, wegzulaufen!
Mahiya zwang den primitiven Drang unter Kontrolle. Es war nicht ihr erster Vorstoß in den verbotenen Bereich. Der letzte war in den Tiefen der Nacht erfolgt, und Neha hatte sich sogar in jenem Zimmer im Zentrum aufgehalten. Es waren Mut und erbitterte Entschlossenheit nötig gewesen, bei jedem stockenden Atemzug hatte ihr das Herz bis zum Hals geschlagen. Was sie in jener Nacht sehen musste, war verstörend gewesen, aber die Entdeckung hatte nicht ausgereicht, um ihren Plan zu Ende zu bringen.
Heute waren die glatten Marmorwände nicht mit Eis überzogen, Mahiyas Atem bildete keinen Nebel in der Luft, und ihre Knochen schmerzten nicht von der unsäglichen Kälte. Mit den Fingerspitzen berührte sie den Marmor, während sie schnell und lautlos den letzten Korridor entlanglief. Schon war die Tür in Sichtweite. Beim letzten Mal war sie so von Eis eingeschlossen gewesen, dass Mahiya den Griff nicht gefunden hatte.
Jetzt glänzte der Knauf in strahlendem Gold. Mahiya wollte ihre Hand darauflegen, zögerte jedoch im letzten Moment. Das war viel zu einfach. Sie zwang sich zu Geduld und verbarg sich in einer kleinen Wandnische, während sie ihre Situation aus allen Blickwinkeln betrachtete. Um herauszufinden, was Neha vorhatte, musste sie in dieses Zimmer gelangen, aber wenn sie hineinging, konnte das leicht ihren Tod bedeuten. Denn Neha war ein Erzengel, der sowohl verborgene als auch offenkundige Talente besaß.
Eines der offenkundigsten war die Art, wie sie Reptilien jeder Art beherrschen und manipulieren
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