Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
musste den Willen einer Löwin haben, wenn sie es geschafft hatte, dieses Gift aufzuhalten, das Tag für Tag auf sie herabtropfte.
»Hast du Audrey gefunden?«
Jason dachte über die Frage nach und beschloss dann, ihr die Wahrheit anzuvertrauen, um ihre Reaktion beurteilen zu können. »Ja.«
»Sie ist tot, nicht wahr? Und sie war höchstwahrscheinlich die Frau, die meinem Vater das Bett gewärmt hat.«
Die Schnelligkeit und Exaktheit ihrer Schlussfolgerung ließ Jason zögern. »Du weißt, wer Eris getötet hat«, sagte er langsam, als ihm klar wurde, dass er sich in mehr als einem Punkt getäuscht hatte. »Du hast es immer gewusst.« Sie war zu klug und viel zu gut geschult darin, Unausgesprochenes zu hören, um nicht längst die Einzelteile zusammengesetzt zu haben.
Mahiya zuckte mitten in der Bewegung zusammen, als sie gerade ihre Teetasse zurückstellen wollte, und musste schnell reagieren, damit das zarte Porzellan nicht umkippte. »Was?«
Er stellte seine Tasse ebenfalls ab und griff nach der Kanne, um ihr Tee nachzuschenken. »Trink.«
Mit zitternden Fingern, aber ohne Widerrede befolgte sie seine Anweisung. Als sie die Tasse wieder absetzte, waren ihre Züge scharf vor Anspannung. »Du zuerst.«
15
Jason sah keinen Grund, sich nicht darauf einzulassen, wenn sie beide das gleiche Wissen besaßen. »Durch Bestechung hätte vielleicht auch jemand anders hineinkommen können, aber wir wissen beide, dass nur eine einzige Person blutüberströmt aus Eris’ Palst herausgekommen wäre, ohne auch nur von einer Wache aufgehalten zu werden.« Diese Wachen gaben an, sich in jener mörderischen Nacht an nichts, aber auch gar nichts Ungewöhnliches erinnern zu können – und Neha hatte sie nicht hingerichtet, obwohl sie den Tod ihres Gatten zugelassen hatten.
Mahiya griff nach einem Stück Konfekt, einem Gemisch aus Zucker und Milch, gewürzt mit Nelken und garniert mit Mandelsplittern, und aß es äußerst bedächtig. »Ja«, sagte sie schließlich in einem Ton wie aus Rohseide, »das war mein erster Gedanke.«
»Du hast deine Meinung geändert?«
»Warum sollte … deine Anwesenheit hier, das ergibt keinen Sinn.«
Richtig, dachte Jason, warum sollte Neha ihn einladen, um einen Mord aufzuklären, den sie selbst begangen hatte, und für den niemand sie je zur Verantwortung ziehen würde? Das war ein Geheimnis von viel größerer Tragweite als die Frage, warum Eris gestorben war. Wenn Eris geglaubt hatte, seine Frau würde nicht hinter sein Verhältnis mit Audrey kommen, musste das entweder Irrsinn oder fatale Arroganz gewesen sein. Oder vielleicht hatte Eris nach dreihundert Jahren Gefangenschaft von sich aus den Tod gesucht.
Jason verwarf diesen Gedanken, noch während er in ihm aufstieg. Eris war zu selbstbezogen gewesen und hatte ein zu großes Ego gehabt, um sich zu einem Selbstmord zu entschließen, insbesondere mit einer so komplizierten Methode, bei der er so schwer verletzt und seiner Würde und Schönheit beraubt worden war.
Porzellan klirrte auf Porzellan, als Mahiya ihre Tasse auf dem Unterteller abstellte. »Neha will dich von Raphael loseisen. Vielleicht ist das der Grund.«
»Nein.« Denn Neha hatte ihn kurz nach seiner Ankunft in der Zufluchtsstätte kennengelernt. »Sie muss genau wissen, dass ich niemals einer Frau dienen würde, die jemandem, den sie angeblich liebt, so etwas antut.«
Mahiyas Blick wurde durchdringend, als hätte sie die Geschichte gehört, die hinter dieser Bekundung steckte.
»Und ihr Stolz würde sie daran hindern, fälschlicherweise zu behaupten, du hättest den Schwur gebrochen, damit sie dich hinrichten kann. Womit wir wieder ohne Antworten dastehen.« Sie goss ihm Tee nach. »Was wirst du tun?«
Er überdachte alle Fakten, über die er im Augenblick verfügte, alle zusammengenommen und jedes Teil einzeln. Der Mord war nicht das Wichtigste. Dass Neha und Lijuan damit zu tun hatten, war problematisch, aber eine Freundschaft zwischen den Nachbarinnen war nicht unvorstellbar. Ohne weitere Details tappte er weiterhin im Dunkeln, was den Zweck ihrer geheimen Treffen anging.
Außerdem … hatte er noch nicht herausgefunden, wie er Mahiya zu ihrer Freiheit verhelfen konnte. »Ich bin noch nicht bereit zu gehen.«
Abermals schob Mahiya ihm das Gebäck zu. »Erwartest du von mir, dass ich sie anlüge, wenn sie mich fragt, was du herausgefunden hast?«
Er aß noch zwei der Gebäckstücke, die mit süß-würzigem Gemüse gefüllt waren. »Auf die Wahrheit aus deinem
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