Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
Überzeugungen verstieß, sie hier zurückzulassen, durfte er doch nicht riskieren, sie in die Festung zu bringen. Nehas Reaktion war unberechenbar – wenn er seine Sache nicht vollkommen richtig machte, konnte die Lage sehr schnell gefährlich werden.
Außerdem hatte Audrey die Zeit der Schmerzen längst hinter sich. Er musste jetzt an andere Leben denken.
»Was auch passiert, ich werde dafür sorgen, dass du nach Hause kommst«, versprach er, bevor er sich wieder einem offeneren Teil des Tals zuwandte und in den Nachthimmel hinaufflog.
Die Türen zu Mahiyas Balkon waren einladend geöffnet, und als er eintrat, saß sie im Wohnzimmer auf einem Kissen auf dem Boden. Sie hatte den Sari gegen eine Tunika in leuchtendem Aquamarin und eine schmale Baumwollhose in schlichtem Schwarz getauscht. Das Haar trug sie im Nacken in dem wohlbekannten Knoten.
Vor ihrem Sitzplatz stand ein niedriger, aus dunklem Holz geschnitzter Tisch, an dessen Kanten ein zarter Hauch von Gold eingelassen war. Auf dem Tisch waren eine Teekanne, gemischtes Gebäck und Süßigkeiten sowie zwei Tassen bereitgestellt. Jason blieb stehen. Enttäuschung wallte in seinem Inneren auf. »Du erwartest jemanden.«
Mahiya schenkte ihm ein warmes Lachen. »Ich erwarte dich.«
Schon seit sehr, sehr langer Zeit hatte ihn niemand mehr überrumpelt. »Woher hast du gewusst, wann ich zurückkommen würde?« Dampfschwaden stiegen von dem feinen schwarzen Tee auf, den sie gerade einschenkte.
»Eine gute Gastgeberin merkt sich den Rhythmus ihrer Gäste.« Mit ihrer schlanken Hand, an der sie keine Ringe, dafür aber zwei gläserne Armreifen in der Farbe ihrer Tunika trug, deutete sie auf das flache Kissen auf der anderen Seite des Tisches. »Bitte, setz dich.«
Er fragte sich, ob sie ihn verführen wollte, und verwarf den Gedanken dann wieder – ihre Tunika war zu schlicht, der Mandarinkragen hochgeschlossen, die Ärmel reichten bis zu den Ellbogen und ihr Gesicht war nicht geschminkt. Ein wenig verunsichert von all der Mühe, die sie sich gemacht hatte, schob er das Kissen beiseite und setzte sich direkt auf den Boden. Die Flügel breitete er über die verstreut liegenden kleineren Kissen in satten, leuchtenden Farben aus, deren weichen Stoff er an den Unterseiten seiner Schwingen spürte. »Du musst irgendeine sensorische Begabung haben, dass du meine Ankunft so genau vorhersehen konntest.«
»Bitte? Nein.« Ihr überraschter Blick wurde beim zweiten Wort von ehrlich empfundenem Kummer abgelöst, der ihm verriet, dass sie lieber über eine solche Begabung verfügt hätte. »Ich habe den Himmel nach dir abgesucht. Du siehst, es ist nichts Geheimnisvolles dabei.«
Bis auf die Tatsache, dass sie ihn gesehen hatte. Niemand sah Jason, wenn er nicht gesehen werden wollte. Und als er zur Festung zurückgeflogen war, hatte er nicht entdeckt werden wollen. Das bedeutete, dass Mahiya sehr wohl eine Gabe besaß. »Wann hast du mich entdeckt?«, fragte er ungezwungen, weil er das Ausmaß ihrer Fähigkeiten einschätzen wollte. »Als ich aus den Wolken gefallen bin?«
»Das nehme ich an – ich habe dich am Horizont gesehen, direkt hinter der Festung.«
An dieser Stelle war er hoch, sehr hoch am Himmel gewesen, ein schwarzer Punkt vor schwarzem Hintergrund. Wenn Mahiya in so jungen Jahren bereits einen so scharfen Sehsinn entwickelt hatte, musste sie das Potenzial haben, einmal eine Machtposition unter den Engeln einzunehmen. Er musste sich eingestehen, dass er sich getäuscht hatte. Eingelullt von der Sanftheit ihrer Stärke, die eher dem leisen und doch beharrlichen Tropfen von Wasser auf einem Stein als einer heftigen Erschütterung glich, hatte er die Tatsache außer Acht gelassen, dass sie das Kind zweier mächtiger Unsterblicher war.
»Dein Tee.«
»Danke«, sagte er im selben Dialekt, den sie gesprochen hatte, und erhielt ein Lächeln dafür.
Als sie ihm den Teller mit Gebäck hinschob, aß er mehr als die Hälfte davon auf, bevor er innehielt – er hatte das Abendessen ausgelassen und war hungriger, als ihm bewusst gewesen war. Unterdessen beobachtete ihn Mahiya aus ihren katzenhaft hellen Augen, und er wiederum versuchte, den giftigen Hass darin zu finden, der sie infiziert haben musste … doch er fand nur messerscharfe Intelligenz und eine geistige Anmut vor, die sie nicht verbergen konnte, ganz gleich, wie gut ihre höfische Maske war.
In seine Faszination mischte sich ein Stolz, den er nie erwartet hätte, für Prinzessin Mahiya zu empfinden. Sie
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