Gilgamesch - Der Untergang
da drin noch eine andere Kiste aus Holz.“
Christopher und Herbert schauten sich an. Das musste es sein. Der Reliquienschrein war mit einem Sicherheitsschloss versehen, das für Max, der sich wieder etwas erholt hatte, keine große Herausforderung darstellte. Nach einer Minute hörte man ein Klicken, und er klappte den Deckel mit einem rostigen Quietschen der Scharniere nach oben. Herbert schob ihn unsanft beiseite und schaute hinein. Innen war ein weiterer Kasten, der ebenfalls aus Metall zu sein schien. Er ließ enttäuscht die Schultern sinken.
„Hol ihn heraus“, drängte Christopher einer Eingebung folgend, und dann wurde es auch Herbert klar.
Der innere Kasten war mit einem Silberblech beschlagen, wie es im zwölften Jahrhundert bei wertvollen Truhen und Reliquienschreinen durchaus üblich war. Darunter befand sich in der Regel eine schlichte Holzkiste.
„Ist es das, was wir gesucht haben?“, flüsterte Herbert ehrfürchtig und hielt den Kasten vor sich in die Höhe.
„Wir nehmen das Kästchen mit“, befahl Silvia, „kein Mensch wird nachschauen, ob es noch drin ist. Max, schließ das Ding wieder ab!“
Sie nahm das kostbare Stück an sich und deutete auf den Aushub. „Ich will, dass alles so aussieht wie vorher. Los, macht das Loch wieder zu“.
Die Männer waren ihren Befehlston gewohnt. Ohne Kommentar schaufelten sie die Grube wieder zu und verlegten die Platten, sodass gegen zwei Uhr nichts mehr an ihren Besuch erinnerte. Da Max sich außerstande sah, die GPS-Verstärker wieder abzubauen, übernahm Herbert die Aufgabe.
Er stellte nur einen Stuhl unter die Fenster und angelte die kleinen schwarzen Kästchen mit einer der Brechstangen, die sie dabei hatten.
Wenig später verließen sie die nächtliche Kirche, die wie ein großes, schwarzes Tier zwischen den dunklen Häusern da lag, um all die zu verschlingen, die ihr und ihrem Geheimnis zu nahe kamen.
Christopher spürte, dass sie etwas berührt hatten, das nicht von dieser Welt war. Er hatte keinen Zweifel, dass sich unter dem Silberbeschlag das verbarg, was er vermutete, jener Gegenstand, der aus Adeodatus nach den Worten Leos ein Geschöpf der Hölle gemacht hatte. Es kam ihm so vor, als hätten nicht sie das Kreuz gefunden, sondern das Kreuz erneut ein paar willige und schwache Geschöpfe, die seiner dunklen Macht nichts entgegensetzen konnten.
Er dachte an die Legenden um die Öffnung der Pharaonengräber. Lastete von nun an ein Fluch auf ihnen? Er schüttelte die düsteren Gedanken ab. Die seltsamen Empfindungen, die ihn seit Tagen nicht mehr losließen, verwirrten ihn. Sein Urteilsvermögen und die kompromisslose Rationalität, auf die er immer stolz gewesen war, zeigten erhebliche Risse.
Sie erreichten ohne weitere Zwischenfälle das Haus in Tübingen. Die Straßen waren um diese Zeit menschenleer. Es hatte nicht aufgehört zu schneien, und die Kälte kroch Christopher in jede Ritze seiner Kleidung, als er aus dem geheizten Wageninneren auf den Kies in der Einfahrt sprang. Er zitterte, und Herbert erging es nicht besser. Es war ein typisches Zeichen der Übermüdung. Vielleicht spielte ihm seine Fantasie deshalb einen Streich. So musste es sein. Die Erklärung beruhigte ihn ein wenig, und er konnte ein Gähnen nicht unterdrücken.
„Ich lege mich ein paar Stunden aufs Ohr“, und auf den überraschten Blick Silvias ergänzte er, „wenn man übernächtigt ist, beginnt man Fehler zu machen, und ich möchte mit Herbert bei der Untersuchung der silbernen Kiste ganz besonders sorgfältig sein“.
„Christopher hat recht“, wandte sich Silvia an Herbert, „wir werden uns aufs Ohr legen, und morgen Punkt acht treffen wir uns im Labor im Obergeschoss“.
Max ging selbstständig ins Haus, schwankte dabei aber wie ein Betrunkener, was Christopher als sicheres Zeichen dafür sah, dass es ratsam für ihn wäre, einen Arzt aufzusuchen. Er hielt aber den Mund und verschwand in seinem Zimmer.
Er legte sich in seinen Kleidern aufs Bett und sein letzter Gedanke kreiste um seine Frau, seine Kinder und besonders Klara. Er wollte in sein altes Leben zurück, wollte Klara aus den Klauen des irren Gryphius befreien, seine Frau zurückerobern, die Affäre mit Silvia ungeschehen machen, und dennoch war er in etwas gefangen, das ihn noch nicht losließ.
Er hatte das Gefühl, sich von außen zu beobachten, und der den er sah war nicht jener Christopher Martinez, den er kannte. Kannte er sich überhaupt? Er war immer ein ausgezeichneter
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