Gilgamesch - Der Untergang
sein großes, stets gebügeltes Stofftaschentuch, das ein Anachronismus war wie er selbst. Martin legte ihm unbeholfen die Hand auf die Schulter.
„Danke für Deine Offenheit, Vater. Lass und drei einen neuen Anfang wagen“.
Er wurde ernst und wechselte das Thema.
„Heute Nacht bahnt sich eine Katastrophe an, die unsere gesamte Gesellschaft erschüttern wird. Es wird zu einem weltweiten Zusammenbruch der Finanzsysteme kommen, gegen den die gegenwärtige Wirtschaftskrise wie ein Sturm im Wasserglas aussieht. Ich wollte Dich und Andreas auch gegen Euren Willen in der Villa einquartieren, und habe bereits heimlich Vorräte in den Keller geschafft sowie einen Stromgenerator und Treibstoff.“
Er zögerte. „Ich habe auch eine Waffe“.
„Wo bin ich?“, fragte Klara ängstlich und verwirrt. Sie war aufgewacht und saß nun steif auf dem Rücksitz.
Hermann Hesse wollte seinem Sohn etwas erwidern, doch das musste warten.
„Hab keine Angst, Klara. Wir bringen Dich zu Deinen Eltern. Wir fahren noch etwa eine Stunde bis Tübingen und von dort bringt Dich Sven, Dein Freund bei der Polizei, nach Calw. Ist das in Ordnung?“
Hermann Hesse lächelte in den Rückspiegel, in dem er das intelligente Gesicht des Mädchens sah, das ihn skeptisch anblickte. Dann lächelte auch sie zaghaft.
„Danke“.
Mehr sagte sie nicht. Martin drehte sich zu ihr um und gab ihr den Teddybären, den er immer noch in der Hand hielt. Sie lächelte auch ihn dankbar an. Er erkannte plötzlich die Seelenverwandtschaft zwischen sich und ihr. Sie war ein eigenwilliges und für ihr Alter sehr selbstständiges Kind. Gab es da auch ein verkorkstes Familienleben, vor dem sie flüchten wollte, so wie er nach dem Tod seiner Mutter? War sie leichtsinnig in ein fremdes Auto gestiegen, um einem Zuhause zu entfliehen, in dem sie nicht die Zuneigung fand, die sie brauchte? Dadurch war sie unschuldig und hilflos in große Gefahr geraten.
Martin Hesse hatte beschlossen sie und ihre Familie zu beschützen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Er erkannte sich in ihr wieder und nun war der Zeitpunkt gekommen, seine eigene Spur, die er vor so vielen Jahren verloren hatte, wieder aufzunehmen.
40.
Er betrat das dunkle Haus. Es war verlassen und trostlos, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Carolin und seine Mädchen da wären, um es mit Leben zu füllen. Christopher war im Begriff gewesen, das Glück seines Lebens für zwei Abenteuer wegzuwerfen. Nichts konnte den Schatz aufwiegen, den er besaß, und der für ihn so selbstverständlich geworden war, dass er seine Bedeutung nicht mehr ermessen konnte.
Das Abenteuer mit Silvia hatte er abgeschlossen. Es war eine Entscheidung gewesen, die ihm durch ihre Verwandlung zur kaltblütigen Terroristin, die über Leichen ging, zugegebenermaßen nicht schwergefallen war.
Das andere Abenteuer würde morgen so oder so zu Ende gehen, und er hoffte, dass sich die bösen Vorahnungen nicht erfüllten.
Herbert hatte er bei sich zu Hause abgesetzt. Was ihm noch immer im Kopf herumschwirrte, war ihr Gespräch im Hades.
Bahnte sich für morgen eine Katastrophe an, von der er noch gar nichts wusste? Könnte es ein Ereignis sein, das sich nicht auf einen lokalen Anschlag der Saturnbrüder beschränkte, sondern die ganze Welt bedrohte und entweder sämtlichen Regierungen und Wissenschaftlern entgangen war, oder von ihnen geheimgehalten wurde?
Das war kaum vorstellbar, denn das Internet war ein unkontrollierbares Medium. Wenn es etwas gab, das andere bereits wussten, so würde er es herausbekommen. Sie hatten versucht, Sven von Herberts Wohnung aus zu erreichen, doch sein Handy war abgeschaltet und es gab keine Mailbox, auf der sie eine Nachricht hinterlassen konnten. Er würde es später noch einmal versuchen.
Er setzte sich vor den PC und schaltete ihn ein. Während das Betriebssystem hochgefahren wurde, ging er in die Küche und machte sich einen doppelten Espresso, denn er wollte noch ein paar Stunden wach und konzentriert bleiben. Er nippte an seiner Tasse.
Seltsam. Hatte der Kaffee den würzig bitteren Beigeschmack wie aus der Maschine Silvias? Das konnte nicht sein. Er verwarf den Verdacht. Er erinnerte sich an Svens Vortrag über die Drogen, die sie gerne in heiße Getränke mischten. Sie steuerten die Kooperationsbereitschaft durch gezieltes Beimischen ihrer Pilzeuphorika.
Vielleicht fühlte er sich gerade deshalb so matt und deprimiert, weil er auf Entzug war. War das auch der Grund,
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