Gillian Shields - Der Zauber der Steine
ihr für mich getan habt, aber jetzt …«, ihre Stimme zitterte, und sie musste schlucken.
»Aber was? Was ist los, Evie?«
Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Sebastian ist tot, Sarah. Ich will nicht in der Vergangenheit wühlen. Ich kann das nicht. Ich glaube, dass ich noch nicht einmal mehr darüber reden will. Wir müssen nach vorne schauen.«
»Und Josh gehört dazu?«, fragte ich beiläufig, doch bei diesen Worten spürte ich einen Stich in meinem Herzen. Eifersucht. Ich entzog mich Evies Arm.
»Ich weiß es nicht. Im letzten Halbjahr habe ich Josh gesagt, dass ich für eine neue Beziehung noch nicht bereit bin. Oh, wie ich dieses Wort hasse! Es klingt so übertrieben!« Sie beugte sich nach unten und pflückte ein paar Gänseblümchen, die im Gras neben der Straße wuchsen, und verknotete sie zu einer Kette. »Ich weiß es einfach nicht. Ich mag Josh. Er ist so warmherzig und freundlich und voller Lebensfreude. Er gibt mir das Gefühl, dass die Sonne wieder scheint.« Unvermittelt warf sie die Blumenkette zu Boden. »Wir sind einfach Freunde. Das reicht doch für den Moment, meinst du nicht? Ich will mich nicht quälen und alles hinterfragen müssen. Ich will doch nur glücklich sein.«
»Wollen wir das nicht alle?«, erwiderte ich. Meine Verbitterung konnte ich dabei nicht verbergen.
»Oh mein Gott, was habe ich da gesagt? Du musst mich ja für total oberflächlich und egoistisch halten! Aber so habe ich das gar nicht gemeint. Es war einfach alles zu viel für mich.« Evie seufzte tief. »Als Frankie krank wurde und ich nach Wyldcliffe gehen musste, hat sich mein Leben verändert. Ich vermisse sie immer noch so sehr. Und dann habe ich auch noch Sebastian verloren. Zum Glück habe ich dich und Helen.«
»Und Josh.«
»Stimmt, Josh auch.« Evie sah mich ängstlich an. »Es stört dich doch hoffentlich nicht, dass ich mit Josh befreundet bin?«
»Stören? Warum sollte mich das stören?« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Es ist wirklich toll, dass du jemanden hast, mit dem du reden kannst, ehrlich. Aber dir muss auch klar sein, dass Josh mehr will als nur Freundschaft. Du musst ehrlich zu ihm sein, auch wenn es ihn vielleicht verletzen wird.«
Wieder erschien der leicht verwunderte Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Jede Beziehung, egal ob Freundschaft, Liebe oder was auch immer, kann schmerzhaft sein. Alles ist ein Risiko. Das ganze Leben. Josh ist bereit, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Verstehst du nicht, dass wir zu allem bereit sein müssen? Wir müssen stark sein, was immer auch geschehen mag. Und Leid und Schmerzen gehören zum Leben einfach dazu, so lange man dafür mit allen Sinnen fühlen und das Schöne genießen darf. Sebastian hat mir beigebracht, das Leben zu nehmen, wie es ist, im Guten wie im Bösen, in Freude und Schmerz. Und genau das versuche ich zu tun.«
Ich antwortete nicht. Das war genau das Problem, dachte ich resigniert. Hatte ich bisher überhaupt richtig gelebt? Ich scheute das Risiko, ich hatte Angst, andere zu verletzen, und Angst, verletzt zu werden. Und genau das hatte mich geprägt und mit dieser qualvollen Leere zurückgelassen. Evie lebte wenigstens, in ihr loderte ein nie erlöschendes Feuer.
Wir legten den restlichen Weg schweigend zurück, und schon bald erreichten wir das Dorf mit den dicht an dicht stehenden Häusern und der Kirche aus geschwärzten Steinen. Der einzige Laden war geschlossen, keine Menschenseele weit und breit, außer einem alten Mann, der seinen Hund ausführte.
»Wo könnte Helen sein?«
»Wahrscheinlich dort drüben.« Wir gingen zum Friedhof. Ein düsterer Ort mit Reihen windschiefer Grabsteine und schwarzen Eibenbüschen, trostlos und finster trotz der leuchtend blühenden Blumen, die da und dort auf den Gräbern wuchsen. Wir sahen Helen allein an einer überwucherten Grabstätte sitzen, wo eine eindrucksvolle Engelsstatue einen langen Schatten warf. Hier ruhte Lady Agnes Templeton. Im Dorf waren Gerüchte in Umlauf, ihr Geist würde aus der geweihten Erde aufsteigen und durch die geschlossene Tür in die Kirche treten, und wer den Grabstein berührte, der würde gesund werden. Es hieß sogar, dass Lady Agnes in der Stunde der höchsten Not nach Wyldcliffe zurückkehren würde, um alle zu retten.
Das meiste war nur Aberglaube und hysterisches Geschwätz, doch selbst Miss Scratton meinte, dass ihr Grab für uns ein Schutzort wäre. Ich verstand sehr gut, warum Helen gerade hier sitzen wollte, bevor das neue Schulhalbjahr begann, um
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