Gillian Shields - Der Zauber der Steine
Jungenschule in Wyldford Cross nur etwa zwanzig Meilen von Wyldcliffe entfernt liegt. Wenn dieser Abend ein Erfolg wird, plant die Direktion der St. Martin’s Academy eine Gegeneinladung zu ihrem Weihnachtsball. Meine Damen, wir brauchen mehr Licht und Offenheit in Wyldcliffe!«
Nach anfänglicher Stille brandete frenetischer Jubel unter den Schülerinnen auf. Auch ich war angenehm überrascht. Seit Generationen hatte sich Wyldcliffe jeder Veränderung verweigert, und wenn jemand diese Schule ins 21. Jahrhundert versetzen konnte, dann war es Miss Scratton. Die auf den ersten Blick spröde und streng wirkende Lehrerin war in Wirklichkeit eine ganz andere. Sie hatte uns in unserem Kampf mit dem Hexenzirkel geholfen und sich als prophetische Wächterin entpuppt, die von Anbeginn ein Teil der Geschichte dieser Schule gewesen war. Jetzt lächelte sie und genoss den Applaus, dann hob sie die Hände, um für Ruhe zu sorgen. Genau in diesem Moment rauschte jemand in den Speisesaal. Es war Velvet.
Selbst die strenge Schuluniform hatte sie nicht daran gehindert, ihren aufreizenden Look beizubehalten. Sie hatte ihren Rock hochgeschoben und den Kragen der Bluse aufgeknöpft. Dazu trug sie schwarze Highheels mit 12 cm Absätzen. Vielleicht war es aber auch die Souveränität, mit der sie den Raum betrat. Wie auch immer, sie sah sensationell aus und … das wusste sie. Es wurde still, alle starrten sie an. Nur Helen atmete kurz hörbar ein und schlug sich auf den Arm, als ob sie etwas gestochen hätte. Ich drehte mich um und sah sie fragend an, aber sie schüttelte nur warnend den Kopf, denn Miss Scratton ergriff wieder das Wort.
»Guten Abend, Velvet«, sagte sie, »da ich das Tischgebet noch nicht gesprochen habe, bist du offiziell noch nicht zu spät, aber versuche in Zukunft pünktlicher zu sein. Nimm bitte neben Celeste van Pallandt Platz.« Sie wies auf einen leeren Stuhl neben Celeste, die nicht gerade begeistert über ihre neue Nachbarin zu sein schien. Celeste war es gewöhnt, die uneingeschränkte Königin von Wyldcliffe zu sein und von allen hofiert zu werden. Jetzt schien es so, als müsse sie diese Position an unseren Neuankömmling abtreten. Mir wurde eng ums Herz. Wie ich es hasste, wenn Mädchen mit ihrem Auftreten, ihrer Kleidung und ihrem Reichtum versuchten, sich gegenseitig auszustechen! Ich wünschte, ich könnte jetzt draußen sein, auf dem Rücken eines Pferdes über die Moors galoppieren und den Wind in meinen Haaren und das Hufgeklapper in meinem Herzen spüren. Aber mein Kopf war erfüllt von einem quälenden, nicht enden wollenden Trommeln, so schmerzhaft, dass ich am liebsten aufgeschrien hätte. Ich sah die flackernden roten Flammen der Fackeln, roch den beißenden Rauch, fühlte eine Klinge an meinem Hals und sah die Augen, die mich zu durchbohren schienen …
Ich klammerte mich an meinen Stuhl und zwang mich, die Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben. Helen zupfte mich am Ärmel.
»Können wir uns heute Nacht treffen?«, flüsterte sie mir zu. »Am üblichen Ort? Wir können hier nicht reden. Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, aber … da ist etwas. Ich brauche deine Hilfe.«
»Klar«, flüsterte ich zurück. »Was ist mit Evie?«
Helen zögerte einen Moment, dann nickte sie. Miss Clarke, die immer etwas ungepflegt wirkende Lateinlehrerin, die gerne ihre Schülerinnen drangsalierte, sah stirnrunzelnd in unsere Richtung, und wir verstummten.
»Lasst uns jetzt das Tischgebet sprechen und für die gnadenvollen Gaben des Herrn danken«, sagte Miss Scratton gerade, » Benedic, Domine, nos et dona tua … «
Als die Schülerinnen einstimmten, betete ich insgeheim mein eigenes Gebet. »Bitte halte deine schützende Hand über meine Schwestern, allmächtiger Schöpfer, und behüte sie vor den düsteren Schatten Wyldcliffes.« Miss Scratton hatte vorhin über Licht und Offenheit gesprochen, aber als ich wieder aufsah, konnte ich durch die Reihe der hohen Fenster erkennen, dass der strahlend helle Frühlingstag zu Ende war. Nacht und Finsternis legten sich einmal mehr über die Abtei.
Fünf
Maria Melvilles Tagebuch,
Wyldcliffe, 3. April 1919
Hier in Wyldcliffe ist es so furchtbar dunkel. Das erste Mal in meinem Leben habe ich richtige Angst. Miss Scarsdale hat mir vorgeschlagen, ich solle alles über meine Ängste aufschreiben, solange ich mit meinem gebrochenen Knöchel hier liegen muss. Deshalb hat sie mir auch dieses Buch gegeben und meinte, die Alpträume würden aufhören, wenn ich
Weitere Kostenlose Bücher