Gillian Shields - Der Zauber der Steine
alles aufgeschrieben hätte. Dem Himmel sei Dank für Miss Scarsdale. Ohne sie wäre ich verrückt geworden, glaube ich. Es ist schwer zu entscheiden, wo ich anfangen soll, aber ich werde es versuchen.
Ich heiße Maria Adamina Melville, bin fünfzehn Jahre alt und Schülerin in der Abteischule Wyldcliffe. Anfangs war ich sehr gespannt darauf, wie diese Schule so ist, obwohl es mir leid tat, Grensham Court verlassen zu müssen. Grensham ist das schönste Haus in ganz Kent, jedenfalls meiner Meinung nach, und meine Mutter und mein Vater sind die besten Eltern der Welt. Ich bin von Herzen dankbar, dass ich sie habe und für alles, was sie mir beigebracht haben. Solange ich mich zurückerinnern kann, waren sie meine besten Freunde und Gefährten. Ich vermisse sie so sehr.
Am besten denke ich gar nicht an zu Hause. Mein Vater wollte unbedingt, dass ich nach Wyldcliffe gehe, und ich bin seinem Wunsch gefolgt wie ein Soldat einem Befehl. Peter Charney aus unserem Dorf war auch Soldat und ist aus dem Großen Krieg nicht wieder nach Hause gekommen, dabei war er erst siebzehn. Ich muss genau so tapfer sein wie er. Auch Mutter meinte, es wäre gut für mich, diese Schule zu besuchen und Freundinnen in meinem Alter zu finden. Und statt von meiner Gouvernante, der guten alten Miss Frenchman, würde ich von den besten Lehrerinnen des Landes unterrichtet werden und später vielleicht sogar auf die Universität gehen. Mutter ist davon überzeugt, dass die Welt sich jetzt verändern wird, nach diesem schrecklichen Krieg. Uns Frauen würden jetzt viele Möglichkeiten offenstehen, wir müssten nicht mehr nur auf einen Ehemann warten. Wir dürfen jetzt sogar wählen, Mrs Pankhurst und ihren tapferen Mitstreiterinnen sei Dank. Wyldcliffe ist die beste Mädchenschule Englands. Hier lerne ich Mathematik, Latein und Naturwissenschaften, genau wie ein Junge auch. Aber Freundinnen habe ich noch nicht gefunden. Zum Glück weiß meine Mutter das nicht. Am ersten Tag, als mich meine Mutter hierherbrachte, zeigte uns die Oberste Mistress Miss Featherstone die Schule. Miss F. lächelte die ganze Zeit und war sehr freundlich, aber ich mochte sie nicht. Sie lächelte mit den Lippen, aber ihre Augen blieben kalt. Die High Mistress machte viel Aufhebens um Mutter und Vater, bestimmt, weil meine Eltern reich sind, aber ich hatte den Eindruck, dass sie insgeheim wütend auf sie war. Daphne Prettywood und ihre Busenfreundinnen erzählten mir später, warum.
»Du bist nur hier, weil deine Eltern dafür bezahlt haben, dass die Schule dich aufnimmt«, sagte Daphne mit höhnischem Lächeln.
»Aber für einen Platz in einem Internat muss doch jeder bezahlen, das ist ganz normal!« Ich verstand nicht, was sie meinte.
Daphne lachte: »Ja schon, aber deine Eltern mussten sehr viel mehr auf den Tisch legen. Wie ich gehört habe, waren es fünftausend Pfund, sonst hätte Miss Featherstone nicht eingewilligt. Sie wollte dich hier nicht.«
Mir wurde schwindlig. Selbst für reiche Leute waren fünftausend Pfund ein Vermögen. »Erzähl doch nicht solche Dummheiten, Daphne. Das kann nicht stimmen.«
»Ich habe gehört, es sollen sogar zehntausend gewesen sein«, lästerte ihre Freundin Florence Darby.
»Und ich zwanzig!«, fügte Winifred Hoxton boshaft hinzu.
»Hört auf! Was meint ihr damit?«
Daphne drückte ihr Gesicht ganz nah an meines. Sie zitterte vor Wut und Abscheu. »Deine Eltern mussten die Schule bestechen, mit einer richtig großzügigen Spende, damit du kommen durftest. Normalerweise ist in Wyldcliffe für Leute wie dich kein Platz.«
»Was für Leute?« Jetzt zitterte auch meine Stimme.
»Zigeuner! Denn das bist du – eine dreckige Zigeunerin!«
»Dreckige Zigeunerin!«
»Diebische Zigeunerin!«
»Du gehörst nicht nach Wyldcliffe, und du wirst niemals dazugehören«, zischte Daphne schonungslos. »Ehrlich gesagt frage ich mich, warum deine Eltern so viel Geld für dich opfern. Meine Mutter hat mir alles erzählt, deine Eltern sind nicht deine richtigen Eltern. Sie sollten dich besser in dieses dreckige Zigeunerlager zurückschicken, da, wo du hingehörst!«
»Los, zurück mit dir, zurück!« Winifred und Florence schienen sich köstlich zu amüsieren, sie schubsten und rempelten mich an. Sie zogen meine Verzweiflung ins Lächerliche und beglückwünschten Daphne sogar dazu, es mir so richtig gezeigt zu haben. Dann verschwanden sie. Und das sollten intelligente junge Frauen sein, die Elite der Gesellschaft und ein Muster an gutem
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