Gillian Shields - Der Zauber der Steine
Erinnerungsstücken. Eines war eine kleine goldene Brosche, die sie an meinem Umhang festgesteckt hatte. Dann ging sie. Es kam jemand herein, ich weiß nicht genau wer, vielleicht eine Schwester, ich konnte ihr Gesicht nicht sehen. Jedenfalls kam sie und nahm mich auf den Arm. Dann löste sie die Brosche und steckte sie in ihre Tasche.« Zögernd blickte Helen auf. »Die Brosche sah genauso aus wie das Mal auf meinem Arm.«
»Erzähl weiter, was passierte dann?«, fragte ich.
»Es gab noch mehr Bildstörungen und Blitze. Ich stand wieder auf dem Fenstersims und sah die Straße unter mir. Meine Mutter rief: ›Komm schon, Helen, du musst nur springen! Ich fange dich auf.‹ Plötzlich verwandelte sich ihr lächelndes Gesicht in eine schreckliche Maske wie ein geschrumpfter weißer Totenkopf. ›Komm zu mir, komm, meine Tochter‹, lockte sie wieder und wieder. ›Nein, niemals‹, schrie ich, und dann hörte ich ein grauenvolles Geräusch. Es waren Trommeln, die wie wild schlugen, ohne Unterlass, so laut, dass ich Angst bekam, ihr Dröhnen könnte mich zerstören.«
»Trommeln?«, flüsterte ich. »Aber ich …«
»Es war nur ein Traum, Helen«, unterbrach Evie, »du darfst dir das nicht so zu Herzen nehmen.«
»Ja, aber als ich aufwachte, spürte ich einen brennenden Schmerz in meinem Arm, und da war dieses Mal.« Wieder berührte sie ihren Arm und strich über die Stelle, wo das Mal unter ihrem Nachthemd verborgen war. »Irgendwann hörte der Schmerz auf, aber als Miss Scratton vorhin vor dem Abendessen ihre Rede gehalten hat, begann es wieder. Da habe ich beschlossen, euch einzuweihen.«
Träume. Maskenhafte Gesichter. Dröhnende Trommeln. Genau das hatte auch ich erlebt, gesehen und gehört. Einen Moment war ich wie gelähmt. »Also … was könnte das Mal auf deinem Arm bedeuten?«, stammelte ich dann. »Was wird geschehen?«
»Ich glaube, meine Mutter versucht, aus dem Reich der Schatten Kontakt zu mir aufzunehmen und mich in ihre Welt hinüberzuziehen. Sie wird nicht aufgeben, bis ich ihre willenlose Kreatur geworden bin. In dieser Nacht in den Moors , im letzten Halbjahr, drohte sie mir, ich würde sie als Mutter und als Oberste Mistress anerkennen, noch bevor sie ins Schattenreich hinübergleiten würde.«
»Aber sie ist keine Schulleiterin mehr«, widersprach Evie, »sie ist tot. Sie ist von uns gegangen, Helen. Könnte das alles nicht nur ein böser Traum gewesen sein?«
»Wie erklärst du dann das Mal?«, fragte Helen zurück.
»Aber das könnte doch auch ein gutes Zeichen sein«, meinte Evie, »eine Art Schutz.« Helen war wenig überzeugt, und Evie sah mich flehend an. »Was meinst du, Sarah?«
Ich wusste auch nicht, was ich davon halten sollte. »Es könnte ein gutes Omen sein«, begann ich vorsichtig. »Hoffen wir zumindest, dass es so ist. Aber warum ist Lady Agnes’ Studierzimmer für uns verschlossen? Wer oder was steckt dahinter?«
Evie reagierte spontan: »Vielleicht Agnes selbst? Vielleicht versucht sie uns zu sagen, dass der Mystische Weg für uns zu Ende ist. Und wenn das Mal auf Helens Arm ein Schutzzeichen ist, dann will uns Agnes vielleicht auf diesem Weg mitteilen, dass unsere Aufgabe erfüllt ist.«
»Und wenn das Mal bösartig ist und Mrs Hartle oder der Zirkel dahinterstecken, dass wir nicht durch die Tür gehen können?«, fragte ich.
Evie antwortete mit entschiedener, aber seltsam angespannter Stimme: »Natürlich ist es auch denkbar, dass das Mal eine Art psychosomatische Reaktion ist …«
»Oh, wie vernünftig und logisch!« Helens blasse Augen waren voller Wut. »Ja, natürlich kann das sein. Ich kann mir alles nur eingebildet haben. Es hält mich sowieso jeder für halb verrückt. Du etwa auch, Evie?«
Bleierne Stille machte sich breit. So nah waren wir einem ernsthaften Streit noch nie gewesen. Ich musste eingreifen, versuchen, Frieden zu stiften.
»Evie meint es nicht so, Helen. Sie ist nur erschöpft und gereizt. Es war sehr schwer für sie, das dürfen wir nicht vergessen.«
»Ich weiß«, begann Helen.
»Wirklich? Weiß denn irgendeine von euch, wie es ist, ich zu sein?« Evie begann zu weinen. »Ich habe es so satt, mich in den Schatten zu verstecken, mit Tod und Trauer konfrontiert zu sein und immer noch mit Fehlern und unheilvollen Mächten der Vergangenheit kämpfen zu müssen. Sebastian wollte, dass ich in die Zukunft sehe, im Licht lebe, und das versuche ich zu tun. Ich habe genug! Die Grenze des Erträglichen ist erreicht.«
»Meinst du etwa, nur
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